Da möchte man in Ruhe sein Buch im Regionalexpress lesen, doch wird gestört von zwei blondierten Mädchen voll auf Soziologie, ey.
Ich bin mit dem Regionalexpress unterwegs.
Hier könnt ihr das Audio noch zu Lehmanns Leben anhören!
Ich lese einen Essayband zu „neuen strukturalistischen Diskursen im postnationalen Zeitalter der Globalisierung“. Es ist sehr kompliziert und ich verstehe fast nichts. Das liegt sicher nur daran, dass sich mir gegenüber zwei Mädchen mit blondierten Haaren sehr laut unterhalten.
„Der ist voll sweet, ey“, schreit das eine Mädchen. „Der Michel schaut immer voll sweet mit seinen sweeten Augen.“ Womit auch sonst? Ihre Freundin antwortet: „Yes, Jesse, der Michel ist echt voll sweet. Süße Augen und so, ey. Voll der sweete Boy.“ „Ey, gestern ham wir Mathe geschrieben, war echt voll krass schwer“, schreit Jesse dann. „Du hast eh wieder eins“, ruft die Freundin. "Du bist voll schlau und so."
Vor allem „und so“, denke ich. „In Geschichte hattest du bei letzter Klausur auch voll eins minus, ey. Krass nice.“ Heutzutage müssen sie wirklich nichts mehr in der Schule leisten, wenn solche Gören sogar eine eins minus bekommen. „Ging halt auch um die zweite Phase der französischen Revolution und die nachfolgende Restaurationsbewegungen unter Metternich nach Wiener Kongress, ey. Weißt ja, ist voll so das Spezialgebiet von mir und so."
Vor Schreck fällt mir mein Buch runter.
„Ey, voll cooles Buch“, sagt Jesse zu mir. „Hab ich auch gerade gelesen. Aber bisschen unterkomplex, gerade was sozial-habituellen Teil am Ende angeht, ham echt kein Bourdieu gelesen, Digga.“ „Äh“, sage ich schlagfertig. „Ich war erst auf Seite vier.“
„Jesse ist voll auf Soziologie, ey“, sagt ihre Freundin. „Ich find dagegen, du musst erst Probleme über philosophische Axiomen angehen, bevor du mit Praxis beginnen tust. A priori und so, ich schwör'!“ „Oh, ey, wir müssen hier aussteigen", ruft Jesse und die beiden verlassen den Regionalexpress. Auf dem Bahnsteig begrüßt Jesse einen Typen mit riesiger Brille. Er hat wirklich voll sweete Augen.
Ich betrachte den komplizierten Essay-Band in meiner Hand. Dann hole ich aus meinem Rucksack ein lustiges Taschenbuch – und beginne entspannt zu lesen. Nice.