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Autor/in
Tamara Trunk
Tamara Trunk
Interview
Constantin Zöller

Rechtschreibfehler, Leseschwäche, Frust. Wer von Legasthenie betroffen ist, kämpft mit Buchstaben, Worten und Vorurteilen. Auch Starköchin Meta Hiltebrand vom großen SWR3 Grillen hat das erlebt und erzählt im SWR3-Interview von ihren Erfahrungen als Betroffene.

Ob beim Lesen oder Schreiben: Sprache ist ein Code, der entschlüsselt werden muss. Ab der Vorschule und der ersten Klasse lernen Kinder, wie sie mit Buchstaben, Wörtern und Sätzen umgehen müssen, um Dinge zu verstehen und sich schriftlich auszudrücken – und manchen fällt das besonders schwer.

Diagnose Legasthenie: 3,5 Millionen Menschen in Deutschland betroffen

„Die Buchstaben haben sich bei mir im Kopf gedreht“, so beschreibt zum Beispiel auch Starköchin Meta Hiltebrand ihre Lese-Rechtschreib-Störung im SWR3-Interview. Damit ist sie nicht allein: Rund 3,5 Millionen Menschen in Deutschland sind Legastheniker. Das sagt eine Studie der Universität Würzburg. SWR3 hat mit Dyslexietherapeutin und Logopädin Julia Holtheuer über Legasthenie bei Kindern und Erwachsenen gesprochen:

Was ist Legasthenie?

Bei auffälligen Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben, langsamen und fehlerhaften Lesen, Schwierigkeiten bei der Lauterkennung und Verwechslung von Wörtern und Buchstaben deutet vieles darauf hin, dass eine Legasthenie vorliegt.

Laut Definition der Weltgesundheitsorganisation liegt eine „umschriebene Lese-Rechtschreibstörung“ nach dem internationalen Klassifikationsschema ICD-10 vor, „wenn anhaltende und eindeutige Schwächen im Bereich der Lese- und Rechtschreibung NICHT auf folgende Kriterien zurückgeführt werden können:

  • Entwicklungsalter
  • Unterdurchschnittliche Intelligenz
  • Fehlende Beschulung
  • Psychische Erkrankung
  • Hirnschädigung

Legasthenie bei Kindern frühzeitig erkennen

Als Meta in die Schule gekommen ist, war sie körperlich die Größte und sei deswegen in die hinterste Reihe gesetzt worden. „Worauf ich natürlich der Fenstergucker war. Also die Vögel habe ich alle gekannt, die Außenflächen auch“, erinnert sie sich. Das führte dazu, dass Meta in allen Fächern schlecht gewesen sei, besonders im Schreiben. „Die Buchstaben haben sich bei mir im Kopf gedreht. Vieles hab‘ ich auch einfach nicht gehört, weil ich einfach einen Hörfehler hatte als Kind“, erzählt Meta.

Ich hör nun mal einfach keine Doppel-s oder bei den/denn – diese zwei N – ich kann die nicht unterscheiden. Weil das Gehör sie mir einfach nicht freigibt.

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Die Silben- und Lauterkennung ist ein wichtiges Anzeichen für eine mögliche spätere Legasthenie, erklärt auch Dyslexietherapeutin und Logopädin Julia Holtheuer: Bei Kindern im Vorschul- und Grundschulalter kann zwar noch nicht hundertprozentig eine Legasthenie diagnostiziert werden, aber es kann sich abzeichnen, dass die Kinder ein Risiko für eine mögliche spätere Legasthenie haben.

Anzeichen für Legasthenie im Kindergarten- und Grundschulalter

Das Wahrnehmen einzelner Sprachlaute ist wichtig, weil diese Laute ja dann auch verschriftlicht werden müssen. Erste Anzeigen für eine mögliche Legasthenie können entdeckt werden, wenn man auf diese Punkte achtet:

  • Wie gut können Laute wahrgenommen werden?
  • Wie gut klappt die Silbentrennung? (beim Silbenklatschen)
  • Wie gut klappt das Reimen?
  • Wie gut werden Anlaute erkannt, also die ersten Buchstaben rausgehört? Mit welchem Laut fängt ein Wort an? (A wie Apfel, O wie Oma)

„Wenn man merkt, da hapert es noch ein bisschen, dann könnte das auch sein, dass später wirklich eine Legasthenie entsteht und diagnostiziert wird“, sagt Julia Holtheuer im SWR3-Interview.

Auch ein Auge auf die Rechtschreibentwicklung zu werfen, kann aufschlussreich sein:

  • Wie klappt die Rechtschreibung?
  • Bleiben Fehler länger bestehen?
  • Wie ist der Vergleich zu anderen Kindern der Altersstufe?

Wenn sich die Zeichen verdichten, sollten Eltern mit ihren Kindern ab Anfang oder Mitte der ersten Klasse eine Diagnostik erstellen lassen, rät Julia Holtheuer. Das geht beim Schulpsychologen, aber auch beim Kinder- und Jugendpsychiater. Für so eine Diagnostik werden Eltern und Kinder befragt, Tests zum Lesen und Schreiben sowie ein IQ-Test gemacht.

Bei Meta Hiltebrand hat man die Legasthenie recht früh erkannt und versucht, sie auszubalancieren. Vieles könne man auswendig lernen oder sich aneignen, gewisse Dinge aber nicht, erzählt sie im SWR3-Interview:

Tipps zur Förderung bei Legasthenie

Wenn sich aus den Tests ergibt, dass ein Kind von Legasthenie betroffen ist, ist das in erster Linie eine Entlastung: Wenn Eltern, Lehrende und Kinder wissen, was los ist, können Förderungen geplant und besondere Hilfsangebote in Anspruch genommen werden. Kinder, die frustriert sind, weil der Lernerfolg nicht der gleiche ist wie bei den Mitschülern, zweifeln schneller an sich. Julia Holtheuer hat Tipps, wie man Kinder mit Legasthenie nach der Diagnose fördern kann:

  • Die Lesefreude und -motivation aufrecht erhalten: durch Lesespiele und Bücher, die dem Leseniveau entsprechen.
  • Außerschulische Förderungen und Therapieangebote in Anspruch nehmen.
  • Veranstaltungen und Austauschangebote nutzen, zum Beispiel vom Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie.
  • Stärken und Interessen nutzen, um spielerisch Lesen und Schreiben zu üben.

Kinder haben oft großes Wissen über Tiere und Natur, können gut zeichnen oder sind sehr sportlich.

„Da kann man natürlich auch in der Therapie sehr gut anknüpfen und dann auch die Themen aufgreifen und zum Beispiel Geschichten zu den entsprechenden Hobbys schreiben“, empfiehlt Julia Holtheuer.

Bewertung von Legasthenie in der Schule

Das deutsche Schulsystem ist auf Benotung, Bewertung und Vergleich ausgelegt. Kindern, die wegen Legasthenie nicht auf dem gleichen Level wie ihre Mitschüler sein können, steht deswegen ein Nachteilsausgleich zu.

In der Realität sieht das meistens so aus, dass dann die Kinder in den Arbeiten mehr Zeit bekommen. Da haben sie einfach mehr Zeit, die Sache noch mal genauer durchzulesen oder auch die Rechtschreibung zu checken.

Im Podcast „Die Schule brennt“ spricht Netzlehrer Bob Blume mit seinen Gästen über all das, was Schule ausmacht, was Schule gut macht und wo unser Schulsystem auch mal Nachhilfe bräuchte:

Nachhilfe für unser Bildungssystem Die Schule brennt – der Bildungspodcast mit Bob Blume

Im Bildungssystem herrscht Reformstau. Es fehlen in absehbarer Zeit tausende Lehrkräfte bei gleichzeitig wachsender Bildungsungerechtigkeit. Klima, Krieg, KI und Antisemitismus fordern die Bildung massiv heraus. Um es kurz zu machen: Die Schule brennt.

Es gibt aber noch mehr Möglichkeiten: Man könnte auch technische Hilfsmittel zur Verfügung stellen, das sei aber bisher den Lehrerinnen und Lehrern überlassen, fasst Holtheuer zusammen. In der Realität sei das oft noch schwierig – gerade sei das Thema aber etwas ins Rollen gekommen und der Erlass zum Nachteilsausgleich aus dem Jahr 1991 soll konkretisiert werden.

Zusätzlich zum Nachteilsausgleich gilt der Notenschutz. Das bedeutet, dass die Bewertung der Rechtschreibung bei der Leistungsbeurteilung komplett wegfällt – nicht nur in Deutsch, auch in Fremdsprachen und in allen anderen Fächern.

LRS-Klassen in Baden-Württemberg

An zwei Schulen in Baden-Würtemberg gibt es extra LRS-Klassen. Vorteil: gezielte Förderung. Nachteil: Widerspruch zur Inklusion. Mehr zum Thema findet ihr bei SWR2 Wissen:

Bildung Kinder mit Legasthenie – Das Ringen mit den Buchstaben

Eine Lese-Rechtschreibstörung ist nicht heilbar, aber mit einer Lerntherapie kann betroffenen Kindern geholfen werden. Oft fehlt es in der Schule allerdings an Unterstützung.

SWR2 Wissen SWR2

Kindern und Eltern tut es gut, wenn sie offen mit dem Thema umgehen. Auch wenn es früher noch schwieriger gewesen sei, weil Legasthenie noch nicht so bekannt war oder nicht so ernst genommen wurde. Holtheuer findet, dass viel in Bewegung gekommen ist – sieht Kinder aber immer noch mit Vorurteilen konfrontiert.

Vorurteil: Legastheniker sind dumm

Das häufigste Vorurteil Menschen mit Legasthenie gegenüber ist, dass die auffällige Rechtschreibung und das stockende, langsame Lesen mit der Intelligenz zusammenhängt. Und das sei definitiv nicht der Fall, betont Julia Holtheuer.

Legasthenie hat nichts mit Intelligenz zu tun.

Intelligenztests im Rahmen der Legasthenie-Diagnostik belegen häufig: Die Kinder sind in der Regel in allen Bereichen ganz fit – es hapert nur am Lesen und Schreiben. Die Legasthenie nennt man auch Teilleistungsschwäche, das heißt: Nur diese Teile sind betroffen.

Meta Hiltebrand kann rückblickend auch Tipps an Betroffene geben und möchte jungen Menschen Mut machen.

Das bestätigt auch Julia Holtheuer aus ihrer Sicht als Therapeutin. Das Thema Selbstwert nimmt viel Raum in der Behandlung ein:

Da geht es wirklich nicht nur um schulisches Üben und Lernen der Rechtschreibregeln. Es geht auch darum, die Stärken herauszufinden, um die Stärken zu stärken.

Therapie: Ist Legasthenie heilbar?

Obwohl Therapie und Hilfsmittel im Alltag eine Erleichterung bieten können: Heilbar ist Legasthenie nicht. Das Lesen und Schreiben wird immer eine Schwierigkeit für die Betroffenen bleiben.

In der Therapie wird individuell erarbeitet, in welchen Fällen Probleme auftreten. Wie gut läuft das Lesen? Ist das Lesetempo eher langsam? Hat das Kind vielleicht eine Lese-Rate-Strategie entwickelt? Wo hapert es noch beim Schreiben? Was klappt schon richtig gut?

Es könnte zum Beispiel der Fall sein, dass noch einzelne Buchstaben im Wort ausgelassen werden oder dass ähnlich klingende und ähnlich aussehende Buchstaben vertauscht werden: wie das kleine b und das kleine d. Die Diagnostik steht am Anfang und darauf wird aufgebaut, sagt Julia Holtheuer: „Dazu trainiert man auch die orthografischen Regeln, von denen wir im Deutschen ja auch sehr viele haben. Wann kommt ein H? Wann wird ein Wort mit I oder mit IE geschrieben?“

Therapie, Training und Auswendiglernen können vieles ausgleichen. Doch auch nach der Schulzeit sind wir auf Leseverständnis und Rechtschreibung angewiesen.

SWR3-Sprachmix Deutsche Wörter, die in alle Sprachen passen

Wer mit mehreren Sprachen aufgewachsen ist, kennt das: Man redet drauf los und dann rutschen die Sprachen plötzlich durcheinander. Ihr habt uns eure schönsten Sprachmix-Sätze geschickt und deutsche Wörter, die in jede Sprache passen.

Legasthenie als Erwachsener

Auch Starköchin Meta hat gelernt, mit der Legasthenie umzugehen. Sie ist jetzt fast 40 Jahre alt und steht zu ihrer Lese-Rechtschreib-Störung:

Man kann nicht in allem richtig gut sein. Wenn man diese Einsicht gewonnen hat, merkt man, dass man Zeit hat, sich auf die Dinge zu konzentrieren, wo man richtig stark drin ist.

In der Berufsschule sei sie von einem auf den anderen Tag eine der besten gewesen: „Weil ich gelernt habe, dass meine Defizite nicht das sind, worauf es ankommt im Leben“, erzählt Meta.

Und dann gibt es aber auch einige technische Hilfsmittel, die eingesetzt und benutzt werden können, weiß Therapeutin Julia Holtheuer. Das sind zum Beispiel Diktiersoftware, Vorleseprogramme oder Scannerstifte mit Sprachwiedergabe, die im Job und im Privatleben helfen. Wenn die Legasthenie erst als Erwachsener diagnostiziert wird, ist es nicht zu spät, sich für eine Therapie zu entscheiden.

Ich würde schon sagen, dass das Sinn macht, wenn man sich da verbessern will. Dann gibt es da schon Möglichkeiten und Wege, eine Behandlung noch mal in Angriff zu nehmen, entweder in der Face-to-Face-Therapie oder mit entsprechender online Software.

Und die Message, die Meta Hiltebrand als Betroffene an alle Menschen mit Legasthenie weitergeben möchte, macht wirklich Mut und sorgt für Motivation:

Seid mutig, seid lebendig, gebt nicht auf, seid fleißig. Man kann nun mal nicht in allem der Beste sein. [...] Und somit ist auch klar, wo der Fokus hingeht. Ganz klar dahin, wo du Leidenschaft hast. Dahin, wo du Liebe verspürst und noch vielmehr dahin, wo du gerne morgens aufstehst. Denn jeder kann irgendetwas ganz besonders gut.

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