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Sandra Herbsthofer
Sandra Herbsthofer

Toni (22) ist viele. Im SWR3-Podcast „Der Gangster, der Junkie und die Herrin“ erzählt sie von ihrem Leben mit dissoziativer Identitätsstörung (DIS).

Ein Leben als viele – was kompliziert klingt, ist Tonis Alltag. Die 22-Jährige lebt mit einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung (DIS), früher multiple Persönlichkeitsstörung genannt. Im SWR3-Podcast „Der Gangster, der Junkie und die Herrin“ erzählt Toni offen, ehrlich und mit viel Humor von ihrem Alltag mit DIS.

Es gibt Menschen, die einem das Gefühl vermitteln, dass man sie alles fragen kann – Toni ist so eine Person. Und wir hatten viele Fragen. Für diesen Text haben wir ihr fünf sehr persönliche Fragen zu ihrer dissoziativen Persönlichkeitsstörung gestellt. Ihre spannenden Antworten lest ihr hier ⤵

  1. Leben in einer „Körper-WG“: Was bedeutet das?
  2. Welche Identitäten teilen sich den Körper?
  3. Wie fühlt sich ein „Wechsel“ an?
  4. Sex & Liebe mit DIS: geht das?
  5. Welche Konflikte gibt es im Alltag?

Multiple Persönlichkeit & dissoziative Identitätsstörung: Unterschied

Die dissoziative Identitätsstörung (DIS) wurde früher auch als multiple Persönlichkeit bzw. multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet. Diese Begriffe sind heute überholt und sollten nicht mehr verwendet werden.

💡 An dieser Stelle ist es uns sehr wichtig zu betonen, dass es in diesem Text und im Podcast um die subjektiven Erfahrungen und Erlebnisse mit dissoziativer Identitätsstörung von einer Person geht – naja, genauer gesagt von zwei.

Denn circa in der Mitte des Podcasts findet ein Wechsel statt, das bedeutet, dass eine andere Persönlichkeit sozusagen das Steuer übernimmt. Und vor unseren Podcast-Hosts sitzt auf einmal nicht mehr Toni, sondern der 22-jährige Nemanja. Mit den beiden haben Maximilian Pollux, Roman Lemke und Nina Workhard lange und intensiv über ihre DIS gesprochen.

Die ganze Folge mit den beiden könnt ihr hier hören:

1. Was bedeutet es, mit dissoziativer Identitätsstörung zu leben?

Dissoziative Identitätsstörung – ein sperriger Begriff! Daher bietet es sich für viele Betroffene an, Bilder und Metaphern zu verwenden, um ihren Zustand zu beschreiben. Auch Toni nutzt so ein Bild, das Bild einer Wohngemeinschaft.

Wenn Toni über ihre dissoziative Identitätsstörung spricht, dann erklärt sie sie so: „Es ist wie eine WG, die sich keine Wohnung, sondern einen Körper teilt.“

Der Vergleich mit einer WG hat sich deshalb angeboten, weil es bei uns wie in einer richtigen WG darum geht, ein angenehmes Miteinander zu schaffen. Viele Persönlichkeiten kommen zusammen, die andernfalls nicht aufeinandertreffen würden und versuchen, zusammen das Leben zu navigieren.

In Tonis Fall leben in der WG neun Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Sie haben unterschiedliche Geschlechteridentitäten, Interessen und ein unterschiedliches Alter.

Und wie in einer echten WG ist das Zusammenleben nicht immer einfach. Konflikte gehören zum Alltag und nicht zwangläufig müssen die einzelnen Bewohner miteinander befreundet sein.

Wie in einer WG ist man mit manchen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern etwas enger befreundet, als mit anderen.

2. Welche Identitäten teilen sich den Körper?

Es gibt verschiedene Arten von Mitbewohnerinnen und Mitbewohner. Bei uns finden sich Leute mit verschiedenen Geschlechteridentitäten, Alter und Interessen. Nemanja ist ein 22-jähriger Mann, der sich zum Beispiel viel um den Haushalt kümmert und öfter aushilft, wenn andere aus dem System überfordert sind. Mika hingegen ist ein 18-jähriges Mädchen, welches ziemlich selbstbewusst ist und auch gerne feiern geht.

Auch Kinder gibt es in Toni und Nemanjas „System“ – so bezeichnen viele betroffene Personen ihre DIS. Aber es gibt nicht nur Unterschiede, was die Geschlechteridentitäten und das Alter der Persönlichkeiten angeht, sondern Toni und Nemanja erzählen auch von anderen verblüffenden Unterschieden:

Wir unterscheiden uns beispielsweise auch in unterschiedlichen Brillenstärken oder Unverträglichkeiten. Ich (Toni) vertrage zum Beispiel keine Erdnüsse, während andere gerne welche essen. Nemanja verträgt gar keinen Alkohol, ihm wird sofort schlecht.

Porträts von einzelnen Persönlichkeiten, die eine dissoziative Persönlichkeitsstörung haben
Zeichnungen von kindlichen Persönlichkeitsanteilen in Tonis System Bild in Detailansicht öffnen
Porträts von einzelnen Persönlichkeiten, die eine dissoziative Persönlichkeitsstörung haben
Zeichnungen von kindlichen Persönlichkeitsanteilen in Tonis System Bild in Detailansicht öffnen
Porträts von einzelnen Persönlichkeiten, die eine dissoziative Persönlichkeitsstörung haben
Gemaltes Porträt von Toni Bild in Detailansicht öffnen
Porträts von einzelnen Persönlichkeiten, die eine dissoziative Persönlichkeitsstörung haben
Gemaltes Porträt von Toni Bild in Detailansicht öffnen

3. Dissoziative Identitätsstörung: Wie fühlt sich ein „Wechsel“ an?

Zur Erinnerung: Von einem Wechsel sprechen wir, wenn eine andere Persönlichkeit sozusagen das Steuer übernimmt. Im Podcast ist dieser Prozess sogar hörbar, als Toni kurz nach einer Pause fragt und plötzlich Nemanja zu sprechen beginnt.

Er erzählt, dass ein Wechsel sich sehr ziehen, aber auch schnell gehen kann. Das sei nicht immer gleich. Wenn der Wechsel schnell geht, erzählt Nemanja, fühlt er sich wie ein Blinzeln an: „In einem Moment bist du hier und in dem nächsten ganz woanders.“

Toni ergänzt:

Ein langsamer Wechsel lässt sich mit einem dichten Nebel vergleichen, es dauert immer etwas, bis man durch ist und es ist oft anstrengend, durchzukommen. Man fühlt sich oft auch genauso orientierungslos wie in einem richtigen dichten Nebel.

Aber was, wenn so ein Wechsel genau dann passiert, wenn man ihn am wenigsten gebrauchen kann? In ungünstigen Situationen, erzählt Toni, versucht sie sich den Wechsel nicht anmerken zu lassen.

Eigentlich versuchen alle von uns, es zu kaschieren, wenn wir in einer Situation sind, wo keiner über unsere DIS Bescheid weiß. Es gab früher Situationen, wo es plötzliche Wechsel gab und wir dann ziemlich desorientiert waren, damals war unsere Zusammenarbeit auch nicht gut.

Mehr zum Thema dissoziative Identitätsstörung: Im SWR3-Podcast „Talk mit Thees“ spricht Podcast-Host Kristian Thees mit Bonnie über ihre DIS. ⤵️

4. Sex & Liebe mit DIS: Geht das?

Wenn neun Personen sich einen Körper teilen, dann fragt man sich schnell, wie Körperliches, beispielsweise Nähe oder Sex, funktioniert. Kann man mit einer DIS in Beziehungen leben? Oder gar in mehreren gleichzeitig? Gibt es in einem System unterschiedliche sexuelle Orientierungen?

Es gibt verschiedene Sexualitäten und Präferenzen. Wir sind alle sehr queer und sehr durchgemixt.

Toni ist einer Beziehung. Nemanja erzählt, er kennt Tonis Partnerin natürlich. Für ihn ist sie wie eine Bekannte. Tonis Partnerin weiß von Tonis DIS – und kann damit umgehen. Und der Rest der Personen aus dem System? Nemanja erzählt:

Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir gerade nur diese eine Person haben. Und, dass es okay ist, wenn andere Personen aus dem System sozusagen in diese Beziehung einsteigen.

Aber nicht nur für sexuelle oder romantische Partnerschaften kann eine DIS herausfordernd sein – das gilt beispielsweise auch für platonische Freundschaften. Auch in Tonis System haben die einzelnen Persönlichkeiten unterschiedliche Freundesgruppen und soziale Beziehungen.

Was passiert, wenn ein Wechsel während eines Treffens mit einer Freundin passiert? Oft sei das halb so schlimm, erzählt Nemanja:

Unsere Wechsel werden oft nicht erkannt oder als Stimmungsschwankungen abgetan. Es gab noch niemanden, der gesagt hat:Hey, du bist ja gerade gar nicht du selbst. Wenn Leute nur Toni kennen und ich [Nemanja] draußen bin, dann kommt oft: Du bist ja heute still. Dabei bin das einfach ich.

5. Alltag mit dissoziativer Identitätsstörung: Welche Konflikte gibt es?

Obwohl sie mittlerweile als Team gut funktionieren, erzählen Toni und Nemanja, kann der Alltag mit DIS kompliziert und stressig sein.

Es ist manchmal schwierig, sich nicht gegenseitig auf die Füße zu treten, vor allem bei so vielen verschiedenen Besonderheiten und Vorlieben, jedoch ist es wichtig, gegenseitiges Verständnis füreinander aufzubringen und auch ein wenig aufeinander zu achten. Oft klappt das auch.

Früher, erzählen die beiden, war das Zusammenleben noch nicht so harmonisch. An der Verbesserung ihrer Zusammenarbeit haben sie lange gearbeitet.

Uns geht es besser als früher, wir sind heute in der Therapie und arbeiten dort an uns.

Weitere Stories rund um das Thema dissoziative Persönlichkeitsstörung findet ihr zum Beispiel auf dem Youtube-Kanal des funk-Formats „TRU DOKU“. Hier erzählt Protagonistin Jessie über ihr Leben mit sieben Persönlichkeiten:

Dissoziative Identitätsstörung: Jessie lebt mit 7 Persönlichkeiten I TRU DOKU

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