Wer in Deutschland zur Zahnspange recherchiert, sticht in ein Wespennest: Natürlich haben Kieferorthopäden und Zahnärzte ein ehrliches Interesse, gut zu behandeln und dafür Geld zu bekommen. Worauf also können sich Eltern bei der Entscheidung verlassen, ob ihr Kind eine Spange bekommen sollte oder nicht? Wie gut ist die Forschungslage? Dies vorab: Noch nicht komplett ausgereift, aber es gibt wichtige Hinweise.
Zahnspange: In der Grundschule anfangen?
Bereits zum Startzeitpunkt der Zahnspangen-Behandlung gibt es in der Szene Kontroversen. Wir haben uns dazu entschieden, zwei erfahrene Kieferorthopäden zu fragen, was Eltern denn machen sollen: mit dem Grundschulkind zum Kieferorthopäden oder nicht. Die beiden sind sich nicht in allen Punkten einig. Aber beide finden es richtig, frühe Behandlungen genau abzuwägen.
In diesem Artikel: Ab wann macht eine Zahnspange Sinn?
- Interview: Dr. Henning Madsen, Kieferorthopäde
- Interview: Dr. Christof Metz, Kieferorthopädie, Sachverständiger für die KZV BW
- Faktencheck: Was bringen Zahnspangen überhaupt?
- Informationen vom Berufsverband der Kieferorthopäden
Dr. Henning Madsen: „Unsinn, Milchzähne durch die Gegend zu schieben“
Der Mannheimer Kieferorthopäde Dr. Henning Madsen vertritt unter den Fachärzten eine sehr kritische Haltung zur Frühbehandlung:
SWR3: Herr Dr. Madsen, reicht es, erst mit 10 oder 11 Jahren mit der Spange loszulegen?
Madsen: Die Nachteile bei frühem Behandlungsbeginn, also im Grundschulalter, sind, dass es keinesfalls bessere Ergebnisse gibt, dafür aber hohe Behandlungskosten. Vor allem aber, dass es lange Behandlungszeiten gibt, die auch oft zu Abbrüchen und Misserfolgen führen.
SWR3: Warum gibt es denn Behandlungsabbrüche?
Madsen: Weil wir Kinder für die Behandlung eigentlich nur ein bis zwei Jahre lang richtig gut motivieren können. Und wenn man dann in ein viertes oder fünftes Behandlungsjahr hineinkommt, hat man ausgebrannte Patienten, die einfach keine Lust mehr haben.
SWR3: Wann ist denn ein guter Behandlungsbeginn mit einer Spange?
Madsen: Der auf der ganzen Welt übliche Weg ist, dass man bis zum frühen, bleibenden Gebiss wartet, etwa bis zum Alter von 11 Jahren. Und dann setzt man eine einzige, festsitzende Zahnspange ein. Solche Behandlungen dauern dann nur ein bis zwei Jahre. Letzten Endes ist das Ziel der Behandlung ja, dass man bleibende Zähne hat, die gerade sind. Und es ist ja schon von der Logik her Unsinn, Milchzähne durch die Gegend zu schieben.
SWR3: Gibt es denn Fälle, die man auf jeden Fall schon sehr viel früher behandeln muss?
Madsen: Ja, aber selten. Das betrifft zum Beispiel Patienten mit sehr schmalem Oberkiefer und einem seitlichen Kreuzbiss, bei dem der Unterkiefer zu einer Seite abweicht. Das kann auch der verkehrte Überbiss der Frontzähne sein, wenn die unteren Zähne weiter rausstehen als die oberen. Das kann zum Abrieb von Zähnen führen oder auch zu Schäden am Zahnfleisch im unteren Zahnbogen. Aber das betrifft insgesamt vielleicht ein, zwei Prozent jedes Jahrgangs, das ist also recht selten.
SWR3: Grundschulkindern wird die Kieferorthopädie oft nahegelegt, weil angeblich zu wenig Platz für die kommenden, nachwachsenden Zähne da ist, ist das ein Argument?
Madsen: Nein, das ist grundsätzlich kein vernünftiger Grund, denn ein gewisser Platzmangel entsteht bei den allermeisten Kindern in der ersten Wechselgebissphase mit sechs Jahren. Und das ist ganz normal und kann hingenommen werden, bis zum idealen Behandlungsalter.
SWR3: Wie sinnvoll ist denn so eine lose Spange?
Madsen: Die Grundschulkinder finden das ja manchmal furchtbar spannend, so eine herausnehmbare Spange zu bekommen. Das finden die erstmal sehr lustig. Aber höchstens vier Wochen lang, bis sie nämlich gemerkt haben, dass sie stark beim Sprechen stört.
Und dann werden die herausnehmbaren Spangen auch nicht mehr getragen oder nur noch nachts. Und damit kann man natürlich wenig erreichen. Herausnehmbare Spangen sind heute im Großen und Ganzen veraltet. Das kann man ganz klar sagen, weil man mit ihnen die meisten Zahnbewegungen gar nicht machen kann – oder nur sehr eingeschränkt.
SWR3: Eine Studie aus dem letzten Jahr kommt zu dem Schluss, dass 8-jährige Kinder nicht zu oft behandelt werden.
Madsen: Ja, die DMS-6 Studie. Aber das gibt die Studie gar nicht so her. Die Studie untersuchte den Bedarfsgrad, also, dass Kinder Leistungsanspruch an die gesetzliche Krankenkasse haben. Aber wenn 40 Prozent der Kinder mit acht Jahren einen Leistungsanspruch für eine kieferorthopädische Behandlung haben, heißt das nicht, dass man die im Alter von acht Jahren behandeln muss. Das ist ein völliger Fehlschluss.
SWR3: Ist das frühe Behandeln eigentlich nur in Deutschland so?
Madsen: In den anderen europäischen Ländern ist es überwiegend üblich, im frühen, bleibenden Gebiss mit einer einzigen festen Zahnspange zu behandeln, also recht spät im Alter von 10 bis 12 Jahren. In Deutschland ist es üblich, bereits im Grundschulalter anzufangen. Dann gibts erst Mal ein paar Jahre eine herausnehmbare Zahnspange, und dann kommt später noch eine feste Spange hinterher.
Dr. Christof Metz zur Frühbehandlung: „Es kommt drauf an.“
SWR3: Herr Dr. Metz, braucht mein Kind mit 8 Jahren schon eine Zahnspange?
Metz: Das hängt vom Fall ab, wenn Grundschulkinder zum Beispiel einen frontalen Kreuzbiss haben, der sich durch wenige Wochen Behandlung korrigieren lässt, dann macht das durchaus Sinn. Aber nur, wenn davon auszugehen ist, dass danach keine weitere Behandlung mehr notwendig ist.
Aber klar, wenn man später beginnt, ist man schneller fertig. Beispiel Überbisskorrektur: Wenn man früh anfängt bei Acht- oder Neunjährigen, dann holt man mit einer herausnehmbaren Spange vielleicht pro Monat einen halben Millimeter raus. Aber im pubertären Wachstumsschub können das im Monat ein bis anderthalb Millimeter, manchmal sogar noch mehr sein.
Wenn im Gegenteil eine Progenie besteht, sprich, der Unterkiefer mehr wächst als der Oberkiefer, muss man früher anfangen. Solche Dinge kann man später nicht mehr korrigieren. Im Durchschnitt kann man sagen, dass das seltene, schwere Fälle sind.
SWR3: Wie viel Sinn macht denn eine Frühbehandlung mit einer losen Spange?
Metz: Das kommt auch drauf an. Ich habe eine Ausbildung in der Schweiz gemacht, wo klassische lose Spangen im Sinne der deutschen Traditionen tabu waren. In der Schweiz wird gleich mit festen Spangen gearbeitet, das ist effizient, für wenige Monate auch bei Frühbehandlungen.
Aber bestimmte funktionskieferorthopädische Spangen beispielsweise machen für eine Unterkiefer-Rücklage durchaus Sinn – und das sind ja auch lose Spangen. Es gibt bei diesen unbehandelten Patienten übrigens auch vermehrt Verletzungen an den Frontzähnen durch Alltagsunfälle. Auch ein Risiko, wenn man wartet. Das muss man abwägen.
SWR3: Gibt es zu viele frühe Behandlungen?
Metz: Es ist schwer zu beurteilen, ob es zu viele gibt. In meiner Tätigkeit als Gutachter habe ich eigentlich nicht den Eindruck, dass es zu viele „frühe“ Fälle gibt, die ich zur Begutachtung bekomme.
SWR3: Was sollten Eltern fragen, wenn sie mit ihren Grundschulkindern schon zum Kieferorthopäden gehen?
Metz: Die schlaue Frage ist: Besteht eine große Wahrscheinlichkeit dafür, ob nach dem Abschluss der Frühbehandlung, sprich nach einem halben bis maximal eineinhalb Jahren, keine weitere Behandlung notwendig ist. Denn dann ist eine Frühbehandlung vielleicht gar nicht schlecht.
Wenn der Kieferorthopäde aber sagt, später geht es weiter mit einer richtigen Vollbehandlung, dann muss man abwägen, ob man seinem Kind diese lange Behandlungszeit antut. Oder nicht schlauerweise doch wartet, bis mit zehn, elf Jahren der Beginn des pubertären Wachstumsschubs da ist, sodass die Behandlungszeit damit dann erheblich verkürzt ist.
Faktencheck: Was bringen Zahnspangen für die Gesundheit?
Ab welchem Alter „normale Fälle“ mit der Behandlung anfangen sollten, um mit wenigen Nebenwirkungen ein bestmögliches Ergebnis zu bekommen, ist wissenschaftlich nicht vollumfänglich untersucht. Die Forschung zum medizinischen Sinn und Zweck der Kieferorthopädie selbst ist ebenfalls noch verhältnismäßig jung und ist dementsprechend schwer zu beurteilen. Klar ist aber: Es hängt stark davon ab, welche Beeinträchtigung beim Kind vorliegt.
Liest man Studien zur Kieferorthopädie, dann muss man genau hinschauen, welche Schlüsse die Autoren ziehen: So kommt die oben erwähnte, aktuelle Studie zur Mundgesundheit in Deutschland (DMS-6 aus 2022) zu dem Schluss, dass es keine Überversorgung in der Altersklasse um 8 Jahre gibt. Einige Experten wie Dr. Henning Madsen bezeichnen das allerdings als Fehlschluss (siehe Interview). Das zuständige Institut der Deutschen Zahnärzte konnte „aus Zeitgründen“ unsere Fragen dazu nicht beantworten.
Zahnspangen: Viel Geld, obwohl die Studienlage unzureichend ist?
Das Bundesgesundheitsministerium wollte 2019 herausfinden, welchen Sinn Zahnspangen aus gesundheitlichen Gründen machen. Dazu wurde in einer zusammenfassenden Meta-Studie geprüft, zu welchem Schluss vorhandene Studien kommen. Ergebnis: Auch 2019 war die Lage unklar, weil vorhandene Studien „zu unvollständig“ seien, um den gesundheitlichen Nutzen von Kieferorthopädie zu belegen.
Experten bezweifeln, dass Spangen und Brackets immer einen langfristigen Nutzen für die Mundgesundheit haben. Oft gehe es nur um ästhetische Korrekturen. Das bedeutet, dass die Metastudie für die Kieferorthopädie keine grundsätzlich medizinischen Vorteile hinsichtlich der Häufigkeit von Folgeerkrankungen belegen kann, beispielsweise weniger Karies im Alter oder weniger Zahnausfälle.
Gesundheit Zahnspangen – Luxus oder medizinisch sinnvoll?
Experten bezweifeln, dass Spangen und Brackets immer einen langfristigen Nutzen für die Mundgesundheit haben. Oft geht es nur um ästhetische Korrekturen. Studien fehlen.
Zahnspangen bringen letztlich mehr Lebensqualität
Sehr wohl aber kann belegt werden, dass Menschen Zähne korrekt korrigiert bekommen haben und damit mehr Lebensqualität erhalten – das gilt auch deshalb, weil gerade Zähne ein gesellschaftliches Schönheitsideal sind. Denn auch Menschen mit sehr schiefen Zähnen sind in der Regel mit ihrer Kauleistung ganz zufrieden.
Nur wissenschaftlich ausreichend untersucht waren die Folgen lange nicht: Das bemängelte bereits 2001 der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Forderungen, die Forschung zu intensivieren, gab es also schon vor mehr als 20 Jahren. In diesem Sektor ist nicht genug passiert: Selbst im Journal of Health Monitoring aus 2018 wurde bemängelt, dass es mehr „Versorgungsforschung und einen breiteren Diskurs über die aktuelle Behandlungspraxis und deren Nutzen“ geben müsse.
Unterschiedliche Seiten kommen also zu dem Schluss, dass sich die Kieferorthopädie den Vorwurf gefallen lassen muss, dass sie in ganz entscheidenden Gesundheitsfragen seit Jahren viel zu wenig geforscht hat.
Was sagt der Berufsverband der Kieferorthopäden zu frühen Spangen?
In seiner Antwort an SWR3 (hier als PDF-Download) verweist der Vorsitzende Dr. Hans-Jürgen Köning auf die geltende Leitlinie, die zu optimalen Behandlungszeiträumen bei Patienten rät – insbesondere auch unter dem Aspekt der frühen Behandlung –, je nachdem, welches Problem sie haben. Leitlinien sind Ratgeber für Mediziner, in denen für alle medizinischen Fachrichtungen Behandlungsempfehlungen stehen. In der Regel basieren sie auf der Einordnung eines Gremiums aufgrund wissenschaftlicher Daten. Leitlinien werden unter vielfältigen Anforderungen in unterschiedlichen Kategorien erstellt, die hier aufgeführte S3-Leitlinie ist die anspruchsvollste Kategorie mit den strengsten Auflagen – sie kann also als seriös und belastbar betrachtet werden. Hier zeigen Studien, dass eine frühe Behandlung von bestimmten Fehlstellungen Vorteile für die Zahngesundheit bringen kann.
Im Artikel haben wir beschrieben, welche eher seltene Fehlstellung unbedingt früh behandelt werden muss. Inwieweit und zu welchem Zeitpunkt eine Spangenbehandlung aber grundsätzlich Sinn macht, hängt stark von der vorliegenden Beeinträchtigung ab. Einige Experten warnen davor, zu früh einzugreifen. Deshalb können Eltern, die eine Entscheidung treffen müssen, gut damit beraten sein, mehrere Meinungen und Fachberatungen von unterschiedlichen Ärzten einzuholen.
Dass in der Kieferorthopädie bis heute zu lange zu wenig geforscht wurde, räumt der Bundesvorsitzende ein. Die Forschung soll intensiviert werden. Er verweist auf die Studie des Instituts für Zahnärzte, DMS-6, deren Macher uns leider keine Fragen beantworten wollten.