Was wären wir hierzulande froh, wenn unser Zug eine Minute Verspätung hätte. Nur eine Minute! Unseren Freunden würden wir freudestrahlend erzählen, dass der Zug fast pünktlich war.
Ganz anders sieht es da in Japan aus. Eine Minute! Viel zu viel, viel zu lang, das geht nicht. Und doch kam ein Zug im Juni 2020 genau so viel zu spät an – und das hatte Konsequenzen.
Wie kam es zu der Verspätung?
Der Lokführer sollte den leeren Zug am Bahnhof Okayama ins Depot fahren. Allerdings wartete er auf dem falschen Gleis auf die Bahn. Als er seinen Fehler bemerkte, eilte er zum richtigen Bahnsteig – die Übergabe mit dem vorigen Lokführer verzögerte sich dadurch aber um zwei Minuten und er kam, obwohl er Gas gab, noch eine Minute zu spät an.
Die Bahngesellschaft West Japan Railway (JR West) reagierte entsprechend hart und kürzte den Lohn des Verursachers – um umgerechnet etwa 40 Cent. Der Lokführer habe während der Verwechslung nicht gearbeitet.
Lokführer klagt gegen Arbeitgeber
Der Bestrafte zog daraufhin vor Gericht. Die beanstandete eine Minute Verspätung sei sehr wohl Arbeitszeit gewesen, argumentierte der Anwalt des Lokführers. Außerdem sei es durch das Versehen zu keinerlei Unterbrechung der Zugfahrpläne gekommen.
JR West muss Lohn zurückzahlen
Das zuständige Gericht verurteilte das Bahnunternehmen JR West dazu, seinem Mitarbeiter die einschließlich entgangener Überstundenzahlung 56 Yen zurückzuzahlen. Keinen Erfolg hatte der Lokführer aber mit einer anderen Forderung vor Gericht: Er wollte Schadenersatz in Höhe von 2,2 Millionen Yen (etwa 16.000 Euro), da ihm die Entscheidung des Bahnbetreibers, ihm weniger Lohn zu bezahlen, psychische Probleme bereitet habe.
Japan: Hoher Druck auf Bahn-Mitarbeiter
Seinen Sieg in der Sache erlebt der Lokführer leider nicht mehr. Er ist nach kurzer, schwerer Krankheit vor ein paar Wochen verstorben.
Es ging zwar nur um ein paar Cent, aber dem Bahn-Mitarbeiter war es offenbar ein Anliegen, die Unternehmenskultur nachhaltig zu ändern. Der Druck auf die Mitarbeiter der Bahngesellschaft sei hoch, meint ARD-Korrespondent Thorsten Iffland. Wenn man sich zu oft verspäte, müsse man an einer Disziplinarschulung teilnehmen, in der man wieder und wieder die Passagen des Arbeitsvertrags abschreiben müsse, in denen es um Pünktlichkeit geht. Oder man werde gezwungen, den Zug zu putzen. Oder man müsse sich ans Gleis stellen, tief verbeugen, wenn die Kollegen pünktlich abfahren, und dem Zug Worte der Entschuldigung hinterherrufen.
Über das Zugfahren in Japan und den hohen Druck, der auf den Mitarbeitern lastet, berichtet Thorsten Iffland aus Tokio: