Vertuschung – die wurde dem Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki vorgeworfen. Denn das Gutachten, das er zum Missbrauch im Erzbistum in Auftrag gegeben hatte, hielt er lange zurück. Am Donnerstag hat er es nun öffentlich vorgestellt – und sprach dabei selbst von „Vertuschung“ in seinem Bistum.
Kardinal Woelki wird entlastet
Das Gutachten stellt fest: Amtsträger haben in zahlreichen Fällen ihre Pflichten verletzt. Das Handeln der Verantwortlichen im Erzbistum sei über viele Jahre von Chaos, subjektiv empfundener Unzuständigkeit und Missverständnissen geprägt gewesen. Geändert habe sich dies erst mit Einrichtung einer Interventionsstelle im Jahr 2015.
Kardinal Woelki entlasteten die Gutachter allerdings. Er soll seine Pflichten im Umgang mit Missbrauchsfällen in keinem Fall verletzt haben. Stattdessen erhoben sie Vorwürfe gegen den heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße. Während seiner Tätigkeit in Köln habe er beispielsweise sieben Missbrauchsfälle nicht ordnungsgemäß bearbeitet.
Insgesamt listen die Gutachter 202 Beschuldigte und 314 Missbrauchsopfer im Erzbistum Köln auf.
Woelki: „Handeln muss auch für Kleriker Konsequenzen haben“
Unmittelbar nach der Vorstellung des Gutachtens entband Woelki den Weihbischof Dominikus Schwaderlapp sowie den Leiter des Erzbischöflichen Gerichts, Günter Assenmacher, von ihren Ämtern. Während Schwaderlapp in acht Fällen konkrete Pflichtverletzungen begangen haben soll, soll Assenmacher in zwei Fällen eine unzutreffende Rechtsauskunft abgegeben haben.
Am Freitag wurde auch der Kölner Weihbischof Ansgar Puff von seinen Aufgaben freigestellt. Er habe den Erzbischof Woelki um diesen Schritt gebeten, erklärte das Erzbistum. In Puffs Fall geht es um eine einzige Pflichtverletzung während seiner Zeit als Personalchef von Mai 2012 bis August 2013.
„Handeln muss auch für Kleriker Konsequenzen haben“, begründete Woelki seine Entscheidung. Er kündigte an, das Gutachten noch am selben Tag nach Rom weiterzuleiten. „Eine erste Zusage ist damit eingelöst: Aufdecken, was war und was ist, Vertuschung aufklären und die Namen von Verantwortlichen nennen“, sagte der Erzbischof. Er müsse das über 800 Seiten starke Gutachten in den kommenden Tagen erst einmal selbst lesen, um dann daraus „Konsequenzen ableiten zu können“.
„Die Untersuchung hält ernste Versäumnisse fest, die ich zu verantworten habe“, erklärte Schwaderlapp. Er und Heße haben Papst Franziskus ihren Rücktritt angeboten.
Harsche Kritik an Gutachten
Betroffeneninitiativen gehen das Gutachten harsch an. „Was man bestellt hat, hat man bekommen“, sagt Matthias Katsch von der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“. Das Gutachten kläre weder moralische noch kirchenrechtliche Fragen. Katsch kritisierte zudem, dass die Perspektive der Betroffenen für die Erstellung des Gutachtens keine Rolle gespielt habe.
Der ehemalige Sprecher des Betroffenenbeirats im Erzbistum Köln, Karl Haucke, formuliert es noch härter: „Nach dieser Showveranstaltung von eben bin ich der Meinung, die theologischen Fakultäten in Deutschland können ihren Laden schließen.“
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, fordert vom Erzbistum Köln weiteres Engagement bei der Aufklärung von Fällen sexualisierter Gewalt. „Die ersten Suspendierungen sind sicher ein wichtiger Schritt, aber jetzt muss für jedermann in Köln und außerhalb erkennbar werden, dass unberechtigter Institutionenschutz der Vergangenheit angehört“, sagte Rörig der Kölnischen Rundschau.
Wieso wurde das Gutachten erst jetzt veröffentlicht?
2018 beauftragte Kardinal Woelki eine Münchner Kanzlei mit einem Gutachten, das den Umgang des Kölner Erzbistums in Fällen sexualisierter Gewalt während der vergangenen Jahrzehnte darlegen sollte. Das Hauptaugenmerk galt dabei dem Verhalten der zentralen Entscheidungsträger innerhalb der kirchlichen Hierarchie.
Die für den 12. März 2020 angekündigte Veröffentlichung der Ergebnisse fand nicht statt. Nach Monaten des Wartens erklärte der Kardinal am 30. Oktober, das Gutachten werde nicht veröffentlicht. Angeblich gebe es erhebliche methodische Mängel. Stattdessen beauftragte er den Kölner Strafrechtler Björn Gercke mit einem neuen Gutachten.
Was verwunderte: Das Nachbarbistum Aachen hatte in derselben Kanzlei ebenfalls ein Gutachten in Auftrag gegeben, welches komplett und ohne Schwierigkeiten veröffentlicht worden war. Gleichzeitig machte das Gerücht die Runde, der Kölner Kardinal sei unter dem Druck ehemaliger und aktueller Würdenträger eingeknickt, die sich angeblich gegen die Veröffentlichung stemmten, darunter werden auch Schwaderlapp und Heße genannt, wie SWR-Kirchenexperte Ulrich Pick berichtet.
Vatikan entkräftet Vertuschungsvorwürfe gegen Woelki
Ende des vergangenen Jahres wurden Vertuschungsvorwürfe gegen Woelki laut, weil er einen befreundeten Pfarrer gedeckt haben soll, der sich in den 1970ern an Jungen im Kindergartenalter vergangen haben soll.
Woelki meldete 2014 als Erzbischof seinen Fall offensichtlich nicht wie vorgeschrieben nach Rom – aus Rücksicht auf den schlechten Gesundheitszustand des Pfarrers, wie er angab.
Während das mutmaßliche Missbrauchsopfer der Darstellung Woelkis widersprach, es habe nicht an der Aufklärung mitarbeiten wollen, forderte der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller den Kölner Kardinal zum Rücktritt auf, weil er keine Untersuchung eingeleitet habe. Woelki wandte sich im Dezember 2020 an den Vatikan um Prüfung der Vorwürfe. Im Februar hieß es von dort, er habe korrekt gehandelt, da eine strenge Meldepflicht in solchen Fällen erst seit 2020 vorgeschrieben sei.
Die Folge: Mehr Menschen treten aus der Kirche aus
Pick vermutet, dass das Verhalten des Kölner Erzbischofs zu einer Zunahme von Kirchenaustritten geführt hat. Nach Angaben des Kölner Stadt-Anzeigers hat das Amtsgericht Köln von Januar bis einschließlich Mai dieses Jahres bereits 6.250 Austrittstermine vergeben. Im ganzen Jahr 2020 beantragten dort 6.690 Menschen einen Austritt aus der katholischen oder evangelischen Kirche.