Marina Owsjannikowa und ihre Tochter hätten Russland verlassen, sagte der Anwalt der Journalistin am Montag der Nachrichtenagentur AFP. „Sie sind jetzt in Europa. Es geht ihnen gut.“ Er kündigte an, Owsjannikowa werde sich noch öffentlich zu ihrer Flucht äußern, momentan sei es nicht sicher.
Journalistin floh aus Hausarrest
„Verbreitung von Falschinformationen“ über die russische Armee – so lautet die Anklage, die im August gegen die Journalistin erhoben wurde. Dabei drohen ihr nach dem neuen russischen Mediengesetz, das Russlands Präsident Wladimir Putin Anfang März unterzeichnet hat, bis zu zehn Jahre Haft. Bis 9. Oktober sollte die 44-Jährige nach Anordnung eines Moskauer Gerichts im Hausarrest bleiben. Sie durfte auch keine Kommunikationsmittel nutzen.
Die Anordnung kam, nachdem sie im Juli an einem Flussufer gegenüber dem Kreml ein Plakat hochgehalten hatte, auf dem sie Putin als Mörder und seine Soldaten als Faschisten bezeichnete. Ihre Flucht hatte sich bereits am 3. Oktober angedeutet, da Owsjannikowa in Russland auf eine Fahndungsliste gesetzt wurde. Am 5. Oktober erklärte sie in einem Posting bei Telegram, sie sei aus dem Hausarrest geflohen.
Geldstrafe für Owsjannikowa wegen „Aufruf zu Demos“
Nach ihrem Protest gegen den Krieg in der Ukraine im russischen Staatsfernsehen Mitte März hatte ein Gericht sie zunächst zu einer Geldstrafe verurteilt. Marina Owsjannikowa musste umgerechnet knapp 230 Euro zahlen. Das Gericht warf ihr die Organisation nicht genehmigter Aktionen vor, weil sie zur Teilnahme an Demonstrationen gegen den Krieg aufgerufen hatte. Damit bezieht es sich wohl nicht auf den Vorfall während der Fernsehsendung, sondern auf ein Video, das Owsjannikowa bereits zuvor ins Internet gestellt hatte.
Wie eine Reporterin der Nachrichtenagentur AFP meldete, sagte Owsjannikowa im Gerichtssaal: „Ich erkenne meine Schuld nicht an. Ich bin überzeugt, dass Russland ein Verbrechen begeht.“ Russland sei „der Aggressor in der Ukraine“, fügte sie hinzu.
Der russische Oppositionsführer Alexej Nawalny teilte Owsjannikowas ersten Kommentar nach dem Urteil auf Twitter:
Marina Owsjannikowa nach TV-Protest festgenommen
Die TV-Mitarbeiterin hatte in den Hauptnachrichten am Abend des 14. März ein Anti-Kriegs-Plakat in die Kamera gehalten, auf dem auch stand, dass die Zuschauer belogen würden.
„Stoppt den Krieg. Glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet ihr belogen.“ Mit diesem Plakat crasht die Mitarbeiterin des Staats-TV-Senders Perwy Kanal die Hauptnachrichtensendung Wremja in Russland – vergleichbar mit unserer Tagesschau. „Nein zum Krieg“, ruft sie dabei immer wieder. Danach wird die Live-Übertragung abgebrochen und Marina Owsjannikowa offenbar festgenommen.
Der Sender kündigte eine interne Untersuchung des Vorfalls an. Das russische Parlament hatte kurz zuvor ein Gesetz verabschiedet, das bis zu 15 Jahre Haft für die Verbreitung von „Falschnachrichten“ über das Militär vorsieht. Damit wurde auch die Bezeichnung des russischen Militäreinsatzes als „Krieg“ unter Strafe gestellt.
Was wissen wir über die protestierende Mitarbeiterin?
In einem zuvor aufgezeichneten Video, das von OWD-Info veröffentlicht wurde, erklärte die TV-Mitarbeiterin Marina Owsjannikowa, dass ihr Vater Ukrainer und ihre Mutter Russin sei. Deshalb ertrage sie es nicht, die beiden Länder verfeindet zu sehen.
„Wir haben 2014 geschwiegen, als das alles erst begann“, sagte sie weiter und bezog sich damit offenbar auf die Übernahme der Krim durch Moskau und die Unterstützung der pro-russischen Separatisten in der Ukraine. „Wir sind nicht zu Protesten gegangen, als der Kreml Nawalny vergiftete. Wir haben dieses menschenfeindliche Regime einfach schweigend beobachtet. Und jetzt hat sich die ganze Welt von uns abgewandt.“
Nawalny will Marina Owsjannikowa unterstützen
Nach Angaben des Bürgerrechtsportals OWD-Info hätten deren Anwälte die TV-Mitarbeiterin mehr als zehn Stunden nach der Protestaktion nicht kontaktieren können, schrieb der Ex-Chefredakteur des dichtgemachten Radiosenders Echo Moskwy, Alexej Wenediktow, bei Twitter.
Das Lager des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny kündigte an, Owsjannikowa zu unterstützen. Man wolle die Strafen übernehmen, die gegen sie verhängt werden könnten, erklärte Maria Pewtschich von Nawalnys Organisation FBK.
Owsjannikowa wollte in Russland bleiben
Auch der französische Präsident Emmanuel Macron hatte der Journalistin Hilfe angeboten. Er kündigte diplomatische Schritte an, um ihr Schutz zu gewähren „Entweder in der Botschaft oder im Asyl“, sagte Macron einen Tag nach dem Vorfall.
Macrons Asylangebot lehnte Owsjannikowa ab. Sie wolle Russland nicht verlassen, sagte sie am 16. März im Interview mit dem Spiegel. „Ich bin Patriotin, mein Sohn (ist) ein noch viel größerer. Wir wollen auf keinen Fall weg, nirgendwo hin auswandern.“ Sie sprach aber auch davon, dass sie große Angst habe und einen großen Stress spüre. „Ich bin jetzt der Feind Nummer Eins hier“, sagte sie. „Es kann alles passieren, ein Autounfall, alles, was die wollen, dessen bin ich mir bewusst.“
Streit um das Sorgerecht für die beiden Kinder
Zwischenzeitlich hielt sie sich danach in Europa und auch in Deutschland auf, wo sie für die Zeitung Die Welt arbeitete. Im Juli kehrte Owsjannikowa nach Russland zurück, um um das Sorgerecht für ihre beiden minderjährigen Kinder zu kämpfen, das ihr in Russland lebender Ex-Mann ihr wegnehmen wollte. Russischen Medien zufolge hatte ein Gericht in Moskau am 17. Oktober entschieden, dass die Kinder von Owsjannikowa bei ihrem Vater leben sollten. Die Tochter habe jedoch das Land bereits mit der Mutter verlassen. Der älteste Sohn der Journalistin habe sich in der Verhandlung dafür ausgesprochen, beim Vater zu leben, hieß es.
Protest sorgt für weltweite Welle der Anerkennung
Mit ihrer mutigen Protestaktion hat die TV-Mitarbeiterin weltweit eine Welle der Anerkennung ausgelöst. Der Mitschnitt der Szene, in der sie mit einem handgeschriebenen Plakat hinter der Nachrichtensprecherin auftaucht, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Online-Netzwerken. „Was Mut wirklich bedeutet“, schrieb etwa Pianist Igor Levit auf Twitter dazu.
Die russische Journalistin und Gründerin des unabhängigen russischen Fernsehsenders Doschd, Natascha Sindeewa, spricht in der Sendung maischberger. die woche über die Begeisterung für diese „heroische und mutige“ Aktion.
Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bedankte sich bei ihr.