Die etwa 800 Schülerinnen und Schüler des Are-Gymnasiums legten im vergangenen Jahr einiges an Wegstrecke zurück: Weil ihre Schule bei der Flut zerstört wurde, wechselten sie sich mit den Schülerinnen und Schülern einer Schule in der Stadt Remagen ab, für jede Gruppe gab es einen halben Tag Unterricht. Das Are-Gymnasium selbst stand damals meterhoch in Wasser und Schlamm. Schulleiter Heribert Schieler sagte auf die Frage, was sie am dringendsten benötigen im SWR3-Interview: „Ja, eine Schule.“
Seit Beginn des Jahres werden die Schülerinnen und Schüler in einer Containerschule unterrichtet, in fast 300 Containern. Die stehen mitten in einem Acker, am Rande eines Industriegebiets der Gemeinde Grafschaft. Hausnummer: 0. In langen Reihen stehen dort jetzt die aufeinandergestapelten, minzgrünen Baustellencontainer. Dahinter gibt es noch drei Hallen, ähnlich wie man sie von Messen kennt: Sporthalle, Mensa und die naturwissenschaftlichen Räume.
Nach der Flut waren die Schulbusse ein großes Problem
Ein großes Problem waren auch die Schulbusse. „Das war die ersten drei Monate eine Katastrophe“, sagt Schulleiter Schieler. Busse, die einfach nicht kamen, Busfahrer, die von den Kindern per Handy gelotst werden mussten. „Die ersten Wochen haben wir die Kinder mit dem Taxi heimfahren lassen.“ Es sei vorgekommen, dass abends um halb sieben im Januar bei -10 Grad 50 oder 60 Kinder vor der Schule standen und nicht abgeholt wurden.
Are-Gymnasium bleibt wohl längerfristig in den Containern
Die Containeschule ist keine kurzfristige Lösung – nach Prognose des Schulleiters kann der Unterricht im Are-Gymnasium noch die nächsten fünf Jahre auf dem Acker stattfinden. Die meisten Schülerinnen und Schüler sind zwar nicht begeistert von den Containern, finden den Unterricht dort aber besser als in die Schule nach Remagen zu fahren.
Ein Schüler beschreibt die Container so: „Hier sieht es aus wie im Knast.“ Es gibt aber auch einen Lichtblick: „Das Wlan ist grandios.“
Hochwasser-Podcast: So geht es den Menschen im Ahrtal ein Jahr nach der Flut
Um einen Eindruck zu bekommen, wie es den Menschen im Ahrtal geht, waren wir zusammen mit SWR3-Reporter Jakob Reifenberger dort unterwegs, um ihre Geschichten zu hören. Wir wollten wissen, was gut voran geht, was schwer ist, und wie sie sich fühlen. Was haben die Menschen seit der Flutnacht erlebt? Wie geht es ihnen heute? Verarbeitet hat Jakob Reifenberger das alles in einem 73-minütigen Podcast, in dem er die bewegenden Geschichten aus dem neuen-alten Alltag der Menschen erzählt.
Den ganzen Podcast könnt ihr hier am Stück hören.
Einzelne Kapitel aus dem Podcast gibt es hier auch nochmal als Video oder zum nachlesen und nachhören:
- Warum eine Familie aus Bad Münstereifel, die zwei Häuser und ihr Café verloren hat, nicht als „Flutopfer“ bezeichnet werden will
- Eine Familie, die auch fast ein Jahr nach der Katastrophe noch auf 38 Quadratmetern zu fünft in einer Notunterkunft lebt
- Schülerinnen und Schüler, deren Schule vermutlich noch über Jahre ein Containerdorf bleiben wird
- Ein Abriss-Arbeiter, zu dessen Job inzwischen auch Seelsorge gehört
- Warum die Aufbauhilfen im Ahrtal offenbar nur langsam ihren Weg zu den Menschen finden
Restaurantbesitzer Roberto Lauricella: Seine Katastrophe kam erst nach der Flut
Roberto Lauricella ist angespannt, als wir ihn im vor etwas mehr als einen Monat in seinem Restaurant in Bad Neuenahr-Ahrweiler, unweit vom Fluss, besuchen. Vom letzten Dreh im November ist er uns gut in Erinnerung geblieben: Der Mann trotz aller Schrecken der Flutnacht alles wieder aufbauen wollte. Der Mann, der damals so optimistisch in die Zukunft geblickt hat. Der Mann, im ganzen Umfeld Hoffnung versprüht hat. Ganz ehrlich: Wir freuen uns auf ihn.
Heute scheint er müde, abgekämpft, wütend... Eine zeitlang ist nicht klar, ob er überhaupt zu einem Interview bereit ist. Schließlich stimmt er doch zu und beginnt zu erzählen, warum die Stimmung sich so verschlechtert hat.
Nach dem Hochwasser im Ahrtal: Restaurantbesitzer Roberto ist mental am Anschlag
„Eigentlich jetzt im Frühjahr, wo es aufwärts gehen sollte, merke ich bei mir, aber auch bei vielen anderen, dass es runtergeht mit der Gemütslage“, sagt er. Spricht von „schlechten Tagen“, an denen er unter der Dusche steht und grübelt, wie er alles schaffen soll. Sagt, dass der Anblick der Zerstörung über einen so langen Zeitraum ihn verändert hat – nicht ins Positive.
Wer durch Bad Neuenahr-Ahrweiler geht, sieht vielerorts noch die Zerstörung. In großen Teilen der Innenstadt sind die Erdgeschosse nach wie vor unbewohnbar. Der Wiederaufbau stockt. Auch bei Roberto.
Restaurantbesitzer aus dem Ahrtal: Die Menschen sind müde und zermürbt
Roberto spricht das lange Warten bei den Hilfsanträgen an, oder dass es neun Monate gedauert hat, bis eine Straßenlaterne aufgebaut worden ist. Erzählt, dass er auf den Gutachter warten muss, der eigentlich schon mal da war. Aber nun hätten sie neue Risse am Gebäude entdeckt. Auch mit dem Architekten gab es Verzögerungen. Kurzum: Roberto und seine Familie sind abhängig von anderen, müssen warten, können nichts tun. Alles dauert länger als gedacht. Er sagt, dass das ihn und die Menschen hier müde macht und zermürbt.
Gleichzeitig laste die Verantwortung für drei Generationen auf ihm, sagt er und meint damit seine Eltern, seine Kinder, seine Frau und ihn selbst.
Wie schlimm die Zerstörungen im Ahrtal immer noch sind, seht ihr in diesem Video.
Roberto will nicht aus Bad Neuenahr-Ahrweiler weggehen
Doch trotz all der Traurigkeit und Wut blitzt auch immer wieder der „alte Roberto“ durch. Zum Beispiel als er erzählt, dass er den Pizzacontainer mittlerweile direkt vor das Restaurant gestellt hat und dort eine Sommerterasse aufmachen will. Und dann kommt der Kämpfer in ihm durch: Viele würden ihn fragen, ob er nicht lieber weggehen will. Warum er wieder so nahe am Wasser bauen wolle, sagt er. Doch das kommt für ihn nicht in Frage, denn:
Roberto haben wir auch später wieder begleitet. Wie es ihm heute geht, lest ihr hier:
Drei Jahre nach der Flutkatastrophe Darum musste Pizzabäcker Roberto jetzt weg!
Nach der Flutkatastrophe will Roberto sein Restaurant in Bad Neuenahr wieder aufbauen, doch dass nichts vorangeht, zermürbt ihn fast. Dann trifft er eine krasse Entscheidung.
Warum eine Familie aus Bad Münstereifel nicht als 'Flutopfer' bezeichnet werden will
Als Christiane Reinartz im Interview erzählt, dass sie gleich dreifach betroffen ist – die Flut hat ihnen zwei Häuser und ihr Café weggerissen –, muss sie lachen. Die Szene wirkt surreal: Da sitzt sie mit ihrem Mann im Rohbau des zerstörten Cafés vor der Kamera und grinst. Es ist der gleiche Ort an dem sie am 14. Juli 2021 zusammen mit ihrer Tochter eingeschlossen war, als das Wasser immer höher stieg.
Innerhalb von Minuten schlägt das Wasser gegen die Decke
Kurz nachdem Mutter und Tochter beschließen, ein Stockwerk höher zu gehen, passiert es: Die Fenster im Erdgeschoss bersten. Innerhalb von Minuten füllt sich der untere Stock mit Wasser, das wild tobend gegen die Decke schlägt. „Das war wirklich Timing“ sagt sie heute. Sie hat das alles auch gefilmt mit dem Handy. Es ist unheimlich laut und lässt erahnen, was sie meint, wenn sie über die „unglaubliche Geräuschkulisse“ spricht.
Nach der Flutkatastrophe kommt die Wut
Wer im Ahrtal und um die Region rund um die Erft unterwegs ist, kann kaum glauben, dass die Hochwasserkatastrophe schon ein Jahr zurückliegt. Denn an vielen Stellen ist die Zerstörung noch deutlich sichtbar. Der Wiederaufbau stockt, kommt nicht voran. Und die Menschen sind müde und mürbe davon. Bei vielen ist mittlerweile ein Gefühl vorherrschend: Wut.
Leben nach der Flut: Die Wut ist zum Grundgefühl geworden
Wut über den Verlust, die Zerstörung, den Stillstand, kennt auch Christiane Reinartz. Die Wut sei zum Grundgefühl geworden, sagt sie. Das war der Moment, als sie die Reißleine gezogen und sich in Therapie begeben hat. Denn sie sagt auch: „Ohne professionelle Hilfe geht es nicht.“
Mittlerweile scheint es ihr besser zu gehen. Das Paar stütze sich gegenseitig in schwierigen Momenten, erklären die Reinartz. Kleine Gesten, wie einfach auch mal eine Kerze auf der Baustelle anzünden, helfen. Und dann sagt Christiane Reinartz die Sätze, die ihre neue Einstellung auf den Punkt bringen:
Nach dem Hochwasser in Bad Münstereifel: Die Stadt baut wieder auf
Familie Reinartz weiß aber auch, dass in Bad Münstereifel eine besondere Stimmung herrscht. Und die ist wirklich spürbar. Überall rollen Baumaschinen, die Menschen gehen durch ihre Stadt, es wird angepackt. Der Wille, weiterzumachen, ist da. „Sie trägt mich“, sagt Rolf Reinartz über die Stimmung hier. Wohlwissend, dass es in den Nachbarorten schon wieder ganz anders aussieht.
Notunterkunft: Zu fünft im Tiny House auf dem Parkplatz
Als SWR3-Reporter Jakob Reifenberger mit dem Arbeiter-Samariterbund telefoniert, erfährt er, dass auch nach einem Jahr noch 384 Menschen in Notunterkünften leben. Und das nicht insgesamt, sondern allein in den Unterkünften dieses Bundes. Andere Vereine haben eigene Notunterkünfte. Gesammelte Zahlen dazu gibt es nicht, denn jede Kommune zählt für sich und Menschen, die privat untergekommen sind, werden nirgends erfasst.
Zu den Menschen in den Notunterkünften gehört auch Familie El-Bayyari. Sie lebt zu fünft auf 38 Quadratmetern. Ihr aktuelles „Zuhause“ ist ein Tiny House, das in einer Reihe mit 17 weiteren kleinen Häusern steht. Die Konstellation ist bizarr: Das Holz ist noch ganz frisch und hell, die Häuser wirken wie eine nagelneue Ferienanlage. Es sind aber Notunterkünfte auf dem ehemaligen Parkplatz eines Schwimmbads. Der Parkplatz wird nicht mehr gebraucht, denn das Schwimmbad wurde bei der Flutkatastrophe auch zerstört.
Verlockend mag man meinen, Notunterkünfte, die an Ferienhaussiedlungen erinnern, können nicht allzu schlecht sein. Der Alltag holt diese Stimmung aber bald ein. Zu fünft auf 38 Quadratmetern ist die Liste der Einschränkungen lang. Mutter Elif kann beispielsweise nicht kochen, wenn der Jüngste in seinem Bett liegt. Der Topf steht in einer Kiste unter dem Bett der Eltern, weil der Schrank in der Küche zu klein ist. Um an die Kiste zu kommen, muss sie vorher das Kinderbett wegschieben.
Trotzdem ist sie froh über das Tiny House: Ihre Kinder seien wieder gesund. Nachdem in der Wohnung unter ihrer eigenen im alten Haus das Wasser stand, hat sich der Schimmel ausgebreitet und die Kinder waren ständig krank. Sie wissen nicht, ob sie jemals wieder in ihre Wohnung zurückkönnen. In der neuen Nachbarschaft haben die Kinder andere Kinder zum Spielen gefunden. Für Elif ist das das Schönste an der neuen Wohnsituation.
Bis September wollen sie aber wieder raus sein aus der Notunterkunft. Dann endet Elifs Elternzeit. Wenn sie beide wieder arbeiten, hoffen sie, etwas Größeres zu finden.
Wie sieht es heute im Ahrtal aus? In der Bildergalerie bekommt ihr einen Eindruck von der Zerstörung, die immer noch an ganz vielen Stellen sichtbar ist.
Abriss im Ahrtal: Als würde man den Menschen etwas wegnehmen
Maximilian Gölitzer ist ein Seelsorger in Handwerkerklamotten. Geplant war das Interview mit ihm nicht; er hat Kollegen von SWR3 angesprochen, was sie denn da tun würden. Er ist Arbeiter auf einer Baustelle, der was loswerden will. Und das aus gutem Grund: Er hat einfach keine Lust mehr auf Gaffer. Wenige Meter von ihm entfernt steht ein Holzkreuz mit Blumen davor.
Natürlich kann auch ein Verwandter oder Freund das Kreuz für eine Familie fotografiert haben, das wissen wir nicht. Aber das Gefühl, die Betroffenen werden angegafft, ist richtig mies. Auch SWR3-Reporter Jakob Reifenberger kennt bei der Berichterstattung das Gefühl: „Und ich hoffe in dem Moment wirklich, dass sich niemand durch mein Radiomikro genervt oder bedrängt fühlt. Ich versuche natürlich immer, sehr vorsichtig und rücksichtsvoll auf die Leute zuzugehen.“
Gölitzer hat in Wiesbaden ein eigenes Unternehmen für Abbrucharbeiten und erzählt, wie unterschiedlich es sich anfühlt, dort oder im Ahrtal ein Haus abzureißen.
Zuhause sei das Geld einfacher verdient. Die Projekte seien über Monate geplant und es gehe „nur um die Häuser“. Im Ahrtal werde man fast zum Seelsorger. Über seine aktuelle Baustelle erzählt er, er habe vorab mit der Eigentümerin des Hauses besprochen, sie solle sich melden, wenn es ihr zu schnell ginge. Dann würde er den Bagger ausmachen und mit ihr eine Pause einlegen.
ISB: Warten auf die Aufbauhilfe im Ahrtal
Dass sich alles so ewig in die Länge zu ziehen scheint, macht die Leute mürbe und wütend. Drei Buchstaben fallen in solchen Momenten immer wieder: „ISB“ – das steht für die Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz. Sie bezeichnet sich selbst als Förderbank des Landes. Wer Fördergelder erhalten möchte, muss sie hier beantragen. Sei es für die Gründung eines Unternehmens, oder die ökologische Sanierung eines Hauses.
Seit der Flutkatastrophe ist sie auch für die Wiederaufbauhilfen für Betroffene zuständig und damit für die Menschen im Ahrtal unheimlich wichtig. Wird ihr Antrag hier abgelehnt, gibt es keine finanzielle Hilfe. Für viele rückt der Wunsch, irgendwann wieder in eine Normalität zurückzukommen, damit in noch weitere Ferne. Ein Beispiel: Für weggeschwommenen Hausrat bekommt eine vierköpfige Familie rund 28.500 Euro. Geld, das dringend benötigt wird. Dazu kommen noch höhere Förderbeträge für Schäden an der Wohnung oder dem Haus selbst. Eigentlich eine gute Sache, könnte man meinen. Aber viele sind frustriert, dass Anträge lange liegen bleiben und nichts vorangeht. Ein Steuerberater, der anonym bleiben möchte, sagt im Gespräch mit SWR3-Reporter Jakob Reifenberger:
Die ISB sieht das anders – man bearbeite die Anträge so schnell wie möglich, viele seien aber nicht vollständig. Auch der Steuerberater, der anonym bleiben möchte, berichtet: Immer wieder habe es Nachfragen gegeben, die aber im ersten Formular gar nicht aufgeführt gewesen seien. Dadurch würden sich Anträge über Wochen ziehen. Das Interview mit ISB-Vorstand Dr. Ulrich Link hört ihr in dieser Folge unseres Podcasts SWR3 Report: Ahrtal – Leben nach der Flut: