Unwürdig – der Fall Christian Wulff. Episode 2: Trügerische Stille
Es ist kurz vor Weihnachten im Jahr 2011. Normalerweise wird die Zeit jetzt ruhiger. Es wird besinnlich. Nicht so bei Christian Wulff. Gerade erst hat Christian Wulff einen großen Fehler gemacht – und auf die Mailbox von Bild-Chefredakteur Kai Diekmann gesprochen.
[Anfang: eingelesene Mailbox-Nachricht, Ausschnitte]
„Guten Abend, Herr Diekmann, ich rufe Sie an aus Kuwait. , […]. Ich bin in vier Golfstaaten unterwegs und parallel plant einer Ihrer Journalisten seit Monaten eine unglaubliche Geschichte, die morgen veröffentlicht werden soll und die zum endgültigen Bruch mit dem Springer-Verlag führen würde. Und die Frage ist einfach, ob nicht die Bild-Zeitung akzeptieren kann, wenn das Staatsoberhaupt im Ausland ist, zu warten, […] dann können wir entscheiden, wie wir die Dinge sehen. Und dann können wir entscheiden, wie wir den Krieg führen.”
[Ende: eingelesene Mailbox-Nachricht, Ausschnitte]
Dass ein Spitzenpolitiker bei einem Journalisten anruft und versucht die Berichterstattung zu beeinflussen, das gilt als ungeheuerlicher Vorgang in einem Rechtsstaat wie Deutschland, in dem Pressefreiheit herrscht und Zensur verboten ist. Zu diesem Zeitpunkt kurz vor Weihnachten ist das aber noch eine Sache zwischen den beiden – Bundespräsident Christian Wulff und Bild-Chefredakteur Kai Diekmann. Die Mailbox-Nachricht ist der Öffentlichkeit nicht bekannt.
Es geht erst mal um andere Vorwürfe – also die Recherchen, die den folgenschweren Anruf erst ausgelöst haben. Alles dreht sich um das Haus der Familie Wulff in Großburgwedel bei Hannover. Die 500.000 Euro dafür leiht sich Wulff von Edith Geerkens, der Frau des Unternehmers Egon Geerkens. Freunde der Familie. Soweit erst einmal kein Problem. Aber: Als Wulff noch Ministerpräsident von Niedersachsen war, haben die Grünen im Landtag eine klare Frage gestellt – nämlich, ob Wulff irgendeine geschäftliche Beziehung zu Egon Geerkens oder einer seiner Firmen hatte. Der damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen, Stefan Wenzel, erinnert sich: „Die Antwort war damals: Zwischen Ministerpräsident Wulff und den genannten Personen hat es in den letzten zehn Jahren keine geschäftlichen Beziehungen gegeben.”
Formal richtig: Denn die Kreditgeberin war Geerkens Frau. Aber: Die ganze Geschichte ist das nicht.
Stefan Wenzel: „Wenn sie im Parlament eine Anfrage falsch beantworten, dann ist das etwas, was man als Minister schlicht nicht machen darf und als Ministerpräsident auch nicht. Sie müssen das Parlament korrekt informieren. Das ist vor Gericht nicht einklagbar, aber das kann alleine schon ein Rücktrittsgrund sein.”
Christopher: Christopher Jähnert und Kilian Pfeffer nochmal hier. Hallo! Das ist natürlich schon eine merkwürdige Geschichte, muss man sagen. Wulff hat im Landtag zwar nicht gelogen – aber auch nicht so richtig alles gesagt.
Kilian: Und Monate später holt ihn das dann ein. Als er schon gar nicht mehr Ministerpräsident ist, sondern Bundespräsident. Weil verschiedene Medien da hinterher sind und einfach wissen wollen: Wie hat der Mann sein Haus finanziert? Steckt da vielleicht irgendjemand dahinter, dem er im Gegenzug einen Gefallen getan hat oder so? Da gab es Gerüchte und Vermutungen, dass es da Kontakte zu einem sehr bekannten Unternehmer aus Niedersachsen gegeben haben könnte.
Christopher: Also nicht zu Egon Geerkens, sondern einem anderen bekannten Unternehmer. Das ist wichtig. Der Name spielt hier jetzt aber keine Rolle mehr.
Kilian: Genau. Wichtig ist nur: Den vermuteten Kontakt zu diesem bekannten Unternehmer, den gab es in dem Fall nicht. Und Wulff hätte im Landtag auch das andere Problem ja einfach ausräumen können.
Christopher: Richtig. Indem er einfach die Frage, ob es geschäftliche Beziehungen zu Geerkens gab, etwas ausführlicher beantwortet. Er hätte ja einfach nur sagen müssen: Nein, keine Geschäftsbeziehung zu Herrn Geerkens, aber zu Frau Geerkens. Dann wäre vielleicht all das, über das wir hier sprechen, nie passiert: Wahrscheinlich hätte keiner weiter nachgefragt. Weil das auch nicht so verdächtig gewirkt hätte. Und es hätte auch den Anruf bei Kai Diekmann nie gegeben.
Kilian: Womöglich wäre Wulff dann noch weiter Bundespräsident gewesen. Und man hätte ihm eben nicht vorwerfen können, dass er vielleicht was zu verschweigen hat. Oder dass man sich einfach als Bundespräsident so nicht verhalten kann, weil man ja sowas wie die höchste moralische Instanz in Deutschland ist.
Christopher: Das ist also sowas wie eine Kettenreaktion, die da ausgelöst wird. Und das ist dann so ein Punkt, wo wir beide ratlos sind. Und nicht nur wir. Ich verstehe nicht: Warum hat er nicht einfach noch ein bisschen mehr gesagt? Das haben wir Christian Wulff einfach selbst gefragt.
Christian Wulff: „Ich hätte in der Landtagsanfrage offen sagen sollen, dass ich von der Frau Kredit habe, aber dass zu dem Mann gefragt war. Aber man geht normalerweise in Anfragen in Landtagen nicht über die Fragestellung hinaus. Da können Sie jeden Politiker in Berlin oder den Landeshauptstätten fragen. Man beantwortet die gestellten Fragen. Es sind eh schon tausende, die gestellt werden an die Regierung. Aber ich habe ja im Nachhinein sofort eingeräumt, ich hätte das umfassend darlegen sollen. Heute würde ich sogar sagen, ich hätte auch darlegen sollen, dass die Kinder der Frau, die mir den Kredit gegeben hat, wenn den Eltern was zugestoßen wäre, bei uns hätten leben sollen. Da hat ja die Süddeutsche geschrieben, wenn er das gleich gesagt hätte, wäre das ganze Thema ganz anders behandelt worden. Aber ich dachte mir, das geht doch keinen was an, das Private, die privaten Verhältnisse.“
Ein Fehler – das ist klar. Das räumt Christian Wulff ja heutzutage auch ein. Das hilft ihm allerdings jetzt nichts mehr: Denn alle großen Medien steigen in die Geschichte ein. Alle wollen wissen: Warum ist der Ministerpräsident von Niedersachsen nicht einfach zu einer Bank gegangen und hat dort nach einem Kredit gefragt? In den Medien ist man sich offenbar einig: Da stimmt etwas nicht.
Stefan Niggemeier: „Natürlich haben Journalisten erstmal den Auftrag, die Pflicht nachzuschauen, was ist denn da.”
Stefan Niggemeier ist einer DER Medienjournalisten und Medienkritiker in Deutschland.
„In welcher Weise ist denn ein Bundespräsident erpressbar oder hat sich abhängig gemacht oder hat Verträge, Freundschaften in einer Weise geschlossen, die mit diesem Amt nicht vereinbar sind. Da zu recherchieren und wenn man erstmal was gefunden hat, auch zu sagen, okay jetzt gucken wir nochmal genauer hin, noch genauer, noch genauer, ist natürlich ein absolut legitimes und wichtiges journalistisches Anliegen und Vorgehen.”
Und das machen dann eben auch alle. Sie wollen Antworten. Es ist DAS Thema in diesen Tagen. Nebenbei bemerkt: Es gibt auch gar kein anderes – schließlich ist es kurz vor Weihnachten. Da heißt es auch in den Nachrichten: Alles wird ruhiger. Allerdings: Wulff geht erst Tage später an die Öffentlichkeit, um sich zu erklären. Noch so ein Fehler – in so einer Krise ist es eigentlich ziemlich wichtig, dass man schnell reagiert. Wulff wirkt zerknirscht.
Christian Wulff: „Mir ist klar geworden, wie irritierend die private Finanzierung unseres Einfamilienhauses in der Öffentlichkeit gewirkt hat. Das hätte ich vermeiden können und müssen.”
Doch zu diesem Zeitpunkt gibt es schon hunderte Fragen – und zwar nicht mehr nur zum Hauskauf, sondern auch zu anderen Themen. Reporter werden neugierig: Ist da wohl noch mehr zu holen? Wulff wirkt plötzlich verdächtig. Sein Krisenmanager Gernot Lehr versucht alles, um die Situation in den Griff zu bekommen.
Gernot Lehr: „In Journalisten-Kreisen war eine Stimmung, die ich noch nie so erlebt habe. Ich habe zu praktisch jeder Lebensphase von Christian Wulff anfragen bekommen. Wir haben in einem Team von drei Anwälten und zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern und dem Team, das unmittelbar im Bundespräsidialamt um Herrn Wulff herum war, diese Fragen beantwortet. Wenn beispielsweise Christian Wulff oder seine Frau eine Massage in einem Hotel gebucht hatten, was Journalisten herausgefunden hatten, wurde gefragt, ob er die denn auch gezahlt habe. Es wurde nach Strandkorb-Finanzierungen gefragt. Es gab ein kleines Hochzeitsfest, es wurde gefragt, wer das finanziert habe. Wir haben nachgewiesen, dass es natürlich von der Familie Wulff selbst finanziert wurde. Es wurde wirklich jedes, jede Reise überprüft. Und das führte immer wieder zu dem Eindruck, aha da gibt es den Verdacht, dass er sich fehlverhalten habe und diese und er kommt nur Salami-weise mit Informationen heraus. Nein. Die Fragen wurden Salami-weise gestellt, zu Ereignissen, die völlig harmlos waren und die man gar nicht kritisch ansehen konnte.”
Von Besinnlichkeit in der Vorweihnachtszeit also keine Spur. Wulff und sein Team haben alles andere als ruhige Tage.
Christian Wulff: „Eigentlich wurde jeden Tag irgendetwas in Umlauf gebracht. Es wurde einfach immer irgendetwas behauptet und man räumte das ab und dann wurde was Neues behauptet. So habe ich die Tage, die Wochen in Erinnerung.”
Wie kann man jetzt reagieren? Man könnte direkt aufgeben und sich zurückziehen. Man könnte versuchen, es zu ignorieren. Christian Wulff entscheidet sich für die Trotzhaltung. Durchhalten um jeden Preis.
Christian Wulff: „Den Medien wollte ich nicht nachgeben, weil ich ja wusste, ich hatte rechtmäßig gehandelt, ich hatte mir nichts rechtlich Verwerfliches vorzuwerfen. Und für die Fehler, die ich gemacht habe, die Ungeschicklichkeiten, habe ich eigestanden, habe ich mich entschuldigt. Und damit war die Sache für mich erledigt. Also das war für mich völlig klar. Trotzdem ist es nicht schön, wenn sie morgens erleben, dass um vier irgendeine Falschmeldung in den Ticker gelegt wird, morgens um sechs in allen Rundfunksendungen läuft. Beispiel: Als wir dann ein paar Tage Urlaub genommen haben, lief morgens, meine Frau hätte irgendeinen A3 genutzt und nicht nutzen dürfen, Audi A3. Nachmittags hatten wir eine einstweilige Verfügung, dass das nicht stimmte. Aber über die einstweilige Verfügung hat am nächsten Morgen niemand berichtet, sondern am nächsten Morgen wurde die nächste Sau durchs Dorf getragen.”
Liest man sich heute die Presseartikel von damals durch, könnte man den Eindruck bekommen: Alle sind gegen Wulff. Ganz so war das aber nicht, sagt der Medienjournalist Stefan Niggemeier.
Stefan Niggemeier: „Es gab in den Medien, glaube ich, eine sehr breite Übereinstimmung irgendwann zu sagen, dieser Bundespräsident ist nicht mehr haltbar. Und es hab aber gar nicht so sehr eine korrespondierende Einigkeit beim Publikum, also soweit man das so in Meinungsumfragen feststellen konnte. Und ich glaube was da passiert ist, ist das dann Journalisten gesagt haben, das kann so nicht bleiben, wir müssen im Grunde so lange gegen den Anschreiben, bis der weg ist. Und dass das Publikum und dass die Bürger gar nicht unbedingt damit einverstanden waren, mit diesem Mechanismus und dass es da eine größere Stimmung auch gab, so auch nach dem Motto, jetzt ist auch mal gut.”
In der Tat: Die Imagewerte von Wulff rutschen zwar in den Keller – die Bevölkerung steht eigentlich aber noch hinter ihm. Das kann man auch heute noch ganz gut nachvollziehen – weil unter anderem auch die ARD regelmäßig Umfragen dazu gemacht hat. Wahlexperte Jörg Schönenborn präsentiert eine davon kurz vor Weihnachten in den Tagesthemen.
Jörg Schönbenborn (Mitschnitt Tagesthemen Infratest, Archivaufnahme): „Die große Mehrheit ist nicht der Ansicht, dass Wulff das Amt räumen muss. Nur 26 Prozent fordern den Rücktritt. 70 Prozent sind der Ansicht, dass er durchaus im Amt bleiben könne. Fazit: Wulff hat eine Chance in der öffentlichen Meinung, aber seine Glaubwürdigkeit, die ist das Problem.”
Rund um Weihnachten dann wird es tatsächlich ruhiger um Christian Wulff. Er hofft, dass er das Schlimmste überstanden hat. In seiner Weihnachtsansprache geht es um den Zusammenhalt in Europa. Über seine eigene Krise verliert Wulff kein Wort.
Christian Wulff: „Das fand ich als Bundespräsident absolut unangemessen, weil die Menschen mit allem zu Weihnachten rechnen können, nicht aber über einen solchen Vorgang zwischen Vorwürfen und Richtigstellungen.”
Die Lage beruhigt sich allerdings nur scheinbar. Die Stille ist trügerisch. Denn kurz nach dem Jahreswechsel holt Wulff einer seiner größten Fehler wieder ein. Die Nachricht, die er noch vor Weihnachten auf die Mailbox von Kai Diekmann, dem damaligen Chefredakteur der Bild-Zeitung, gesprochen hat.
Kai Diekmann: „Ich war ja selber unsicher, wie ich mit dieser Ansage umgehe. Wir haben dann diskutiert in der Redaktionskonferenz und es ist dann die Entscheidung getroffen worden, wir drucken die Mailbox.”
Sagt der Mann, dem die Mailbox gehört. Zu diesem Zeitpunkt lag allen in der besagten Sitzung der Text der Mailbox-Nachricht auf Papier vor. Sozusagen als Grundlage zum Diskutieren.
Kai Diekmann: „Dann ist ja etwas passiert, mit dem ich nicht gerechnet hätte, nämlich dass ich einen weiteren Anruf des Bundespräsidenten bekommen habe. Er hat sich entschuldigt, ich habe die Entschuldigung angenommen und dann die Entscheidung getroffen, wir drucken die Mailbox nicht. So und jetzt komme ich einfach an den Punkt, versuchen Sie mal Zahnpasta, die die Tube verlassen hat, zurück in die Tube zu kriegen. Das geht nicht. Da sind 15 bis 20 Kollegen, kannten den Text, hatten ihn physisch auf dem Tisch und ich hab den auch nicht wieder eingesammelt.”
Und dann – rund um den Jahreswechsel – taucht der Text der Nachricht plötzlich in verschiedenen Zeitungen auf. Schnipselweise. Wie kann das sein?
Kilian: Fassen wir zusammen. Kai Diekmann sagt: Die Redaktion hat diskutiert, ob man die Mailbox öffentlich macht. Und er selbst sagt: Ich habe mich entschieden, nicht zu drucken.
Christopher: Aber weil sie ja schon verteilt war, hat sie dann doch die Runde gemacht – bis in andere Medien hinein. Also: Angeblich ohne sein Zutun. Zahnpasta und Tube und so. Behauptet Diekmann jedenfalls.
Kilian: Ob da Absicht dahinter gesteckt hat oder nicht und wer da wem was gesteckt hat – wir wissen es nicht.
Ob Absicht oder nicht - der Text macht die Runde. Es entsteht eine völlig neue Diskussion.
Tagesschau 02.01.2021, Archivaufnahme: „Hier ist das Erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Guten Abend meine Damen und Herren. In der Affäre um den Hauskredit von Bundespräsident Wulff gibt es einen neuen Vorwurf. Nach Angaben der BILD-Zeitung hat Wulff versucht die Berichterstattung darüber zu verhindern. Dazu habe Wulff Mitte Dezember bei BILD-Chefredakteur Diekmann und Verlagschef Döpfner angerufen. Bekanntgeworden waren diese Gespräche durch Berichte in anderen Zeitungen. Das Präsidialamt erklärte dazu nur, es äußere sich grundsätzlich nicht zu Telefonaten.”
Wulff wird also von einem seiner größten Fehler wieder eingeholt. Und er hat noch ein weiteres großes Problem: Er hat kurz zuvor seinen wichtigsten Berater gefeuert. Ob das so clever war? Und was hat eigentlich Lena Meyer-Landrut mit all dem zu tun?
Antworten in Episode 3.