Unwürdig - der Fall Christian Wulff / Episode 6: Kein Ausweg
[Anfang: Ausschnitt Tagesschau, Archivaufnahme 17.02.2021]
Sprecher: „Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.”
Christian Wulff: „Die Entwicklungen der vergangenen Tage und Wochen hat gezeigt, dass dieses Vertrauen und damit meine Wirkungsmöglichkeiten nachhaltig beeinträchtigt sind. Aus diesem Grund wird es mir nicht mehr möglich, das Amt des Bundespräsidenten nach innen und nach außen so wahrzunehmen, wie es notwendig ist. Ich trete deshalb heute vom Amt des Bundespräsidenten zurück, um den Weg zügig für die Nachfolge freizumachen.“
Sprecher: „Guten Abend meine Damen und Herren. Bundespräsident Wulff ist von seinem Amt zurückgetreten, einen Tag nachdem die Staatsanwaltschaft Hannover die Aufhebung seiner Immunität beantragt hatte.”
[Ende: Ausschnitt Tagesschau, Archivaufnahme 17.02.2021]
Es passiert das, worauf viele offenbar sehnlichst gewartet haben: Christian Wulff kann nicht mehr. Kurz zuvor informiert er sein Umfeld, dass er zurücktreten will. Eine langjährige Mitarbeiterin sagt uns: Endlich hatte das Elend ein Ende – für ihn und für uns.
Der 17. Februar 2012 ist ein Freitag. Ein Tag nach Weiberfastnacht, kurz vor Rosenmontag. Im Schloss Bellevue bricht Hektik aus. Mitarbeiter hängen schnell die Karnevalsdekoration ab, damit nicht noch weitere Schlagzeilen entstehen, wie unwürdig alles ist.
Warum aber ist für Christian Wulff jetzt die Grenze erreicht? Kurzer Rückblick, um was es überhaupt geht.
Christian Wulff hat im Landtag von Niedersachsen zwar die Wahrheit gesagt, aber einen wichtigen Zusatz weggelassen. Das wurde zwischenzeitlich so interpretiert, als hätte er das Parlament täuschen wollen. Er hat Bild-Chefredakteur Diekmann auf die Mailbox gesprochen, was ihm als Angriff auf die Pressefreiheit ausgelegt wurde. Und ihm wurde zahlreich vorgeworfen, Urlaub auf Kosten anderer gemacht zu haben, was er aber zumindest teilweise bestritten hat.
Einer dieser angeblich geschenkten Urlaube: Ein Aufenthalt auf Sylt, offiziell bezahlt vom mittlerweile verstorbenen Film-Unternehmer David Groenewold. Wulff bezeichnet ihn als Freund und sagt, er habe den Urlaub bar zurückgezahlt. Am 8. Februar titelt die Bild-Zeitung:
Bild-Zeitung, 08.02.2012: „Vertuschungs-Verdacht! Wer zahlte Wulffs Sylt-Urlaub?“
Der Medienjournalist Stefan Niggemeier erinnert sich.
Stefan Niggemeier: „Die Sache, die die BILD berichtet hatte, war also an sich gar nicht neu. Das ging darum, dass irgendwie der befreundete Filmproduzent mit dem man da war, dass wohl vorher ausgelegt hatte und sich das Geld dann von Wulff hat angeblich zurückerstatten lassen. Das war alles bekannt. Was die BILD-Zeitung dem hinzugefügt hat, war der Verdacht oder der Vorwurf, dass es den Versuch gegeben hätte einer Vertuschung. Als dass genau dieser Filmproduzent dann später bei dem Hotel angerufen hätte und gesagt hätte, wenn die Presse anruft, ihr sagt nichts. Und dann selber hingefahren ist und sich die Belege hat aushändigen lassen. Das Problem ist, dass diese Geschichte in BILD insofern falsch war, weil es kann gar keine Vertuschung gegeben haben.”
Groenewolds Anwalt geht übrigens gegen diese Berichte vor. Er erwirkt vor Gericht eine einstweilige Verfügung. Das heißt: Die Zeitung darf nicht mehr behaupten, dass auf Sylt Beweismittel beseitigt werden sollten.
Stefan Niggemeier: „Es ging damals darum, dass tatsächlich dieser Filmproduzent dahin gereist ist, in das Hotel, und sich die Belege hat geben lassen. Er sagt, um die einfach selber für sich zu haben. Tatsächlich ist es so, dass es nicht um Original-Belege ging, also es ging nicht darum, dass wenn man ihm das gibt, wenn das Hotel ihm das aushändigt, dass das Hotel nichts mehr in der Hand hat, um irgendetwas beweisen zu können. Das heißt diese ganze Grundbehauptung, dass es da eine Vertuschung hätte geben können, die ist gar nicht gedeckt. Die war dann aber erstmal der Punkt, dass das Ganze in der Öffentlichkeit explodierte, weil das halt entsprechend groß von BILD dargestellt wurde und es war auch der ausschlaggebende Punkt dafür, dass die Staatsanwaltschaft Hannover dann ein Ermittlungsverfahren gegen Wulff eingeleitet hat.”
In einem Interview mit der Welt am Sonntag gibt ein Vertreter der Staatsanwaltschaft Hannover später auch zu: Es sei der Punkt erreicht gewesen, an dem es nicht mehr anders ging.
Und in dem Interview sagt der damalige Staatsanwalt auch: Ausschlaggebend für den Schritt seien Berichte gewesen, die belegten, dass Wulffs Mitangeklagter David Groenewold versucht habe, Beweise aus der Welt zu schaffen.
Was ist dann also passiert? Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, dass Wulffs Immunität aufgehoben wird. Erst wenn das passiert, darf gegen einen Politiker ermittelt werden.
Christian Wulff: „Wenn die Immunität aufgehoben werden soll oder aufgehoben wird, dann kann man sein Amt als Bundespräsident nicht mehr ausführen. Es hat Ministerpräsidenten gegeben, bei Aufhebung der Immunität, die weiter im Amt geblieben sind, aber ein Bundespräsident kann nicht sein Amt ausführen, die Menschen zu repräsentieren, Brücken zu bauen, Gräben zuschütten, zusammenzuführen, wenn der eigene Staat, den er repräsentiert auf einer Ebene der Staatsanwaltschaft Hannover gegen ihn Ermittlungen führt.”
Christopher: Also nochmal kurz zum Verständnis. Wulff hat bis dahin stabil durchgehalten. Hat auch selbst geglaubt, dass er da durchkommt. Ob das realistisch war, will ich jetzt gar nicht bewerten. Er hat uns auch gesagt: Ich wollte am Amt unbedingt festhalten, damit nicht der nächste Bundespräsident einfach geht – so wie davor Horst Köhler.
Kilian: Da muss man ja sagen: So richtig weiß niemand, warum Köhler damals zurückgetreten ist. Das hat alle überrascht damals. Und das hat erst den Weg freigemacht für Wulff, der dann Bundespräsident wurde.
Christopher: Genau. Und nochmal so ein plötzliches Ding – das wollte Wulff vermeiden, sagt er. Also: Durchhalten. Und dann sieht es so aus: Es steht eine neue Behauptung in der Presse – und darüber fällt er dann.
Kilian: Genau. Weil die Staatsanwaltschaft sich auf diesen Artikel der Bild stützt und sagt – da müssen wir jetzt ermitteln. Der Druck ist einfach zu hoch. Wir lassen die Immunität des Bundespräsidenten aufheben.
Christopher: Und in dem Interview aus dem Jahr 2012 gibt der Staatsanwalt das ja sogar zu, dass der Presseartikel über diesen Sylt-Aufenthalt dann sozusagen der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
Kilian: Man kann also sagen: Wulff ist am Ende über einen Bild-Artikel gestolpert, der so gar nicht haltbar war. Stefan Niggemeier, den wir gerade auch gehört haben, hat das sehr ausführlich aufgearbeitet. Übrigens haben wir natürlich den damaligen Bild-Chef Kai Diekmann gefragt, was da los war. Aber Diekmann sagt: Er kann sich daran nicht erinnern.
Christian Wulff, Archivaufnahme 17.02.2012 : „Ich trete deshalb heute vom Amt des Bundespräsidenten zurück, um den Weg zugig für die Nachfolge freizumachen.”
Wulffs Ansprache ist nicht einmal vier Minuten lang. Offenbar will er nur noch weg. Draußen warten ein paar Reporter und Passanten. Sie bekommen Wulff nicht mehr zu sehen. Er nimmt mit seiner schwarzen Limousine den Hinterausgang von Schloss Bellevue.
Unbekannt: „Er gab richtig Gas um die Kurve und weg war er.”
Für Wulff ist der Rücktritt auch eine Erleichterung.
Christian Wulff: „Also wenn Sie wochenlang morgens um sechs in den Rundfunknachrichten irgendwas Neues hören, was irgendwie behauptet oder ausgegraben wurde, dann sind Sie einfach nach dieser wochenlangen Bombardierung einfach erschöpft und Sie schlafen ja auch nicht mehr richtig und nicht mehr gut und nicht mehr durch und träumen und gehen nachts immer mal wieder und gucken, was ist jetzt auf dem Laptop, auf dem Computer, auf dem Handy, was ist an Medienmeldungen nun wieder als Sau durchs Dorf getrieben. Und wenn das es unausweichlich ist, dann ist es auch ein Stück Erleichterung, dass die Sache vorbei ist und Hoffnung, dass man sich nun seine Reputation zurückerkämpfen kann.”
Sorry, wir kommen jetzt aber einfach nicht um einen kleinen Spoiler herum: Die Sache ist natürlich nicht vorbei. Sie beginnt jetzt noch einmal, richtig unwürdig zu werden.
Christian Wulff: „Ich habe mir damals nicht vorstellen können, dass nach dem Rücktritt dann noch eine riesen Kampagne über den Ehrensold, über die Versorgung, über das Büro, über meine Familie und mich stattfinden würde.”
Steht Christian Wulff der sogenannte Ehrensold zu? Das wurde damals gefragt. Der Ehrensold ist eine Art Lebensunterhalt. Alle ehemaligen Bundespräsidenten bekommen ihn nach ihrer Amtszeit. Ein riesiges Thema in Zeitungen, Talkshows und auf der Straße.
[Anfang: Archivaufnahme, Umfrage zu „Ehrensold für Christian Wulff?“]
„Nö, da bin ich nicht für. Der kriegt ohnehin schon genug Geld. Und wenn der heute sich zur Ruhe setzen würde, hätte er ausgesorgt.“
„200.000 Euro ist ein Haufen Geld.“
„Ne, er kann ja auch noch was anderes machen.“
„Das könnte man ja vielleicht beschneiden. Er kriegt ja auch sonst eine anständige Pension.“
„Also man muss ja auch ein bisschen dafür getan haben, dass man sowas dann sein Leben lang bekommt.“
„Viele Menschen hier auf der Straße denen es nicht so gut geht werden dafür kaum Verständnis haben.“
„Das sollte er eventuell spenden oder ganz drauf verzichten.“
„Also er wird schon sein Geld kriegen, er wird doch nicht verhungern.“
„Ja werden ihn dann auch hier noch unterstützen, ich habe auch noch ein bisschen Fisch gekauft, kann er zu uns auch noch einmal zum Essen kommen, nicht, also.”
[Ende: Archivaufnahme, Umfrage zu „Ehrensold für Christian Wulff?“]
Die Stimmung bewegt sich irgendwo zwischen Neiddebatte und billigen Witzchen. Vor allem Politiker der Opposition mischen mit und setzen auch nach dem Rücktritt auf Attacke – zum Beispiel Carsten Schneider von der SPD oder Claudia Roth, die immer noch sehr bekannte Grünen-Politikerin.
Carsten Schneider (SPD), Archivaufnahme: „Wenn wir Haushaltsmittel bewilligen, tun wir das ja im Interesse der Steuerzahler. Und ich kann das bei Herrn Wulff wirklich nicht mehr vertreten.”
Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen), Archivaufnahme: „Es ist wenig einsichtig, dass ausgerechnet Christian Wulff jetzt mit werft darauf besteht, dass er diese Privilegien bekommt, wo es doch Christian Wulff war, der ja gesagt hat, er will bis zum Alter von 67 selber für seinen Lebensunterhalt sorgen.”
Tatsächlich war das so! Wulff hat selbst dafür gesorgt, dass genau das diskutiert wird. Kurz bevor er gewählt wurde, hat er im ZDF nämlich noch folgendes gefordert:
[Anfang: Ausschnitt ZDF-Interview, 21.07.2010]
Christian Wulff: „Ich denke, da muss ein Zeichen gesetzt werden. Das wird man verändern müssen.“
Peter Frey: „Verändern müssen in welche Richtung?“
Christian Wulff: „Das man dort Abstriche vornimmt.“
Peter Frey: „Auch finanzielle?“
Christian Wulff: „Ja sicher.”
[Ende: Ausschnitt ZDF-Interview, 21.07.2010]
Kilian: Hier haben wir wieder einen ganz klassischen Fall. Christian Wulff wird eingeholt von alten Aussagen.
Christopher: Wie so oft. Aber trotzdem muss man in der Rückschau sagen: Das war mehr als unwürdig, diese Diskussion. Es wurde bis ins Kleinste diskutiert: Braucht er einen Dienstwagen, braucht er ein Büro, braucht er Personenschutz, wie viel Geld darf er bekommen und so weiter.
Kilian: Und es war sich ja auch fast niemand zu schade, nochmal einen draufzulegen. Es gab Zeitungen, die haben da von „Un-Ehrensold“ gesprochen, so richtig scheinheilig alles. Auch ehemalige Bundespräsidenten sind da eingestiegen in die Diskussion.
Christopher: Und auch noch andere Medien… das ist teilweise unglaublich, wie die drüber berichtet haben. Wir haben ja zusammen das Archiv hier durchgeschaut. Auch das Fernseh-Archiv. Und ich erinnere mich an eine Nachrichtensendung in einem Dritten Programm, da hat der Moderator einen Staatsrechtler gefragt, ob Wulff wohl den Ehrensold bekommt oder nicht. Er hat sich festgelegt: Nein, kriegt er nicht.
Kilian: Was ja falsch war. Er hat ihn ja bekommen.
Christopher: Genau. Wusste man zu dem Zeitpunkt aber logischerweise noch nicht. Aber der Punkt ist: Der Moderator konnte die Aussage des Staatsrechtlers dann nicht so stehen lassen. Der hat dann so süffisant gelächelt und gesagt: „Da braucht er wohl gute Freunde“ – und das mehr oder weniger in einer Nachrichtensendung, die ja neutral sein soll und nicht pseudo-lustig. Das eigentlich so, im Rückblick unfassbar.
Kilian: Das ist mehr als wertend, ja. Zeigt aber auch so ein bisschen die Stimmung von damals. Alle wollten nochmal einen draufsetzen. Mir kommt da ein Satz in Erinnerung: „Jeder wollte den größten Stein werfen“. Schreibt Wulff auch auf seinem Buch. Noch eine Information mehr, noch einen schalen Witz mehr. Das war damals so die Stimmung. Jeder wollte nochmal auf Wulff draufhauen.
Also - long story short: Wulff bekommt seinen Ehrensold. Wie eben alle Bundespräsidenten zuvor auch. Waren damit die Diskussionen vorbei? Nein. Ein weiterer Punkt auf der nach oben offenen Unwürdigkeits-Skala: Der Zapfenstreich.
[Anfang: eingesprochener Lexikon-Eintrag, „Großer Zapfenstreich“, Stimme: Uwe Lueb]
Großer Zapfenstreich, der. Eine feierliche Militärzeremonie, die von Militärmusikern, Bewaffneten und Fackelträgern zur Verabschiedung durchgeführt wird. Es ist das höchste Zeremoniell der Bundeswehr. Anspruch darauf haben der Bundespräsident, der Bundeskanzler und der Verteidigungsminister.
[Ende: eingesprochener Lexikon-Eintrag, „Großer Zapfenstreich“]
Auch da gibt es wieder Diskussionen: Soll Wulff einen Großen Zapfenstreich bekommen oder nicht? Andere Politiker fragen: Soll er vielleicht aus Anstand selbst verzichten?
Johannes Kahrs (SPD), Archivaufnahme: „Der große Zapfenstreich hat was mit Ehre zu tun. Das ist eine ehrenvolle Verabschiedung. Ich finde dies in diesem Fall unangemessen.”
Hannelore Kraft (SPD), Archivaufnahme: „Wenn am Ende von den Vorwürfen doch was übrigbleibt und er sozusagen verurteilt wird, dass wir dann ihn mit Zapfenstreich verabschiedet haben und Ehrensold zahlen, ich glaube, das ist dann für niemanden mehr verständlich. Insofern hätte ich mir einen freiwilligen Verzicht gewünscht. Er hätte damit sicher auch wieder Türen öffnen können, die im Augenblick für ihn verschlossen sind.”
Peter Hintze (CDU), Archivaufnahme: „Die Integrationspolitik, für die Wulff gestanden hat, die Willkommens-Kultur in Deutschland, das jeder Mensch hier zum Land gehört, das wir alle brauchen, seine Ideen zu Europa, das wird die Präsidentschaft überdauern. Und deswegen finde ich es richtig, dass wir ihn auch würdig verabschieden mit dem großen Zapfenstreich.”
Zum Schluss war das Peter Hintze, damals Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Auch wie Wulff in der CDU. 2016 ist er gestorben – Wulff bezeichnet ihn immer noch als Freund. Tatsächlich war Hintze einer der wenigen, die Christian Wulff auch öffentlich beigestanden haben.
Parallel zur Diskussion unter den Politikern wird der Zapfenstreich auch in den Medien diskutiert. Die Bild spricht vom „Narrenstreich“ und walzt genüsslich alles aus.
Bild-Zeitung, 2012: „Neuer Ärger um Zapfenstreich: Wulff wünscht sich ein Lied mehr als alle anderen vor ihm“.
Höhepunkt war dann eine Liste.
Bild-Zeitung, 2012: „Großer Zapfenstreich: Wulffs geheime Gästeliste. Exklusiv! Wer absagt, wer kommt“
Christian Wulff: „Ich hab nicht für möglich gehalten, dass die Medien jeden öffentlich anprangern, der zum Zapfenstreich kommt und jeden kritisiert haben, der da teilnehmen wollte und jeden gelobt haben, der abgesagt hat, ganze Listen veröffentlicht haben, von Leuten die abgesagt haben, aber gar nicht eingeladen waren. […] Also es gibt immer wieder jetzt Menschen, die dort waren und sagen, weißt du eigentlich was bei mir in der Heimatpresse stand, darüber, dass ich dort hingegangen bin, dass ich da hingefahren bin und mich vom Bundespräsidenten verabschiedet habe? Da gab es Spießrutenlauf, auch gegen diese Menschen, die einfach nur bei dieser Gelegenheit dabei sein wollten.”
In den Medien ist der Zapfenstreich großes Thema – nicht nur die Zeremonie an sich, sondern auch die Begleiterscheinungen. Wenige hundert Demonstranten versammeln sich rund ums Schloss Bellevue.
Christian Wulff: „Also man hat tagelang in den Medien geworben für eine Demonstration. Die konnten auch gar nicht sagen genau, warum sie da standen. Es waren zum Teil mehr Medien da, als betroffene Bürger.”
[Anfang: Demonstration gegen Großen Zapfenstreich, Archivaufnahme, 08.03.2012]
Reporter: „Entschuldigung. Darf ich Sie auch fragen, warum Sie hierhergekommen sind?“
Demonstrant: „Zuschauen.“
Reporter: „Einfach nur zuschauen?“
Demonstrant: „Ja.“
Reporter: „Nicht so sehr demonstrieren?“
Demonstrant: „Nein.“
Reporter: „Warum nicht?“
Demonstrant: „Warum? Doch. Zum Zugucken und zum Demonstrieren, ja.“
Reporter: „Ok. Wogegen?“
Demonstrant: „Gegen Korruption.”
[Ende: Demonstration gegen Großen Zapfenstreich, Archivaufnahme, 08.03.2012]
Christian Wulff: „Wenn man sieht, welche Bedeutung dann 80 Unruhestifter haben im Verhältnis zu anderen, heutigen Demonstrationen und Aufmärschen. Also es war unglaublich aufgebauscht beim großen Zapfenstreich, zu meiner Verabschiedung, waren da 50, 60 mit Jukuelas oder wie die heißen, da diesen Tröten da aus Südafrika.”
[Anfang: eingesprochener Lexikon-Eintrag, „Vuvuzela“, Stimme: Uwe Lueb]
Vuvuzela, die. Ein Blasinstrument. Mit Vuvuzelas können bis zu 120 Dezibel erreicht werden, das ist die menschliche Schmerzgrenze. Bekannt wurde die Vuvuzela durch zahlreiche Fans bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika.
[Ende: eingesprochener Lexikon-Eintrag]
Christian Wulff: „Da hatte die BILD den ganzen Tag online berichtet, die seien in Berlin alle ausverkauft, es gäbe keine mehr, so hat auch motiviert, besorgt euch eine, geht da hin. Und die Polizei erklärte anschließend, ja wir sind froh, dass es nicht zu Übergriffen gekommen ist, statt denen die Abzunehmen, die auf Distanz zu halten, aus Würde des Staates.”
So bekommt die Vuvuzela knapp zwei Jahre nach der Fußball-WM 2010 noch einmal ihren Auftritt in Berlin. Der Zapfenstreich für Christian Wulff wird live übertragen im Sender Phoenix. Kommentatoren sind der Journalist Stephan-Andreas Casdorff und – hier zu hören – Erhard Scherfer.
Erhard Scherfer, Archivaufnahme 08.03.2012: „Und wir schauen weiter auf den Zapfenstreich und ich weiß nach wie vor nicht ganz genau, ob sie es mitkriegen, aber rund um den Park von Bellevue nehmen die Tröten, Trillerpfeifen und Vuvuzelas an Lautstärke zu. Wir widmen uns trotzdem und natürlich unbeeindruckt dem Zapfenstreich.”
[Anfang: Collage Christian Wulff sowie Kommentatoren und Musikstücke des Großen Zapfenstreichs]
Christian Wulff: „In dem Moment habe ich es zu ignorieren versucht – Und das gelingt mit einem gewissen Tunnelblick in solch einem Moment auch, da konzentriert man sich dann auf die Formation und auf die Bundeswehr und auf die Gäste und das Umfeld und das Andere blendet man aus. Aber im Nachhinein war das ein ganz dunkler Schatten, die begleitende Berichterstattung, die mangelnde Würde dieser Zeremonie, dieses Ereignisses.”
Christian Wulff: „Es standen in den Zeitungen Leute die abgesagt hätten, die gar nicht eingeladen waren. Also da haben Leute erklärt, ich gehe da nicht hin, die hätten auch gar nicht hingehen können. Also das war Verfolgungswahn, das war jedes Maß vergessend und vermissend und gehört zu den sicher negativen Erlebnissen in der deutschen Geschichte.”
Erhard Scherfer, Archivaufnahme 08.03.2012: „Und zu den Klängen des Zapfenstreich-Marsches löst sich jetzt langsam dieser große Zapfenstreich auf für Christian Wulff, den wir da gerade nochmal sehen, wie er auch sich jetzt persönlich noch einmal verabschiedet. Und zum ersten Mal Stephan-Andreas Casdorff sehen wir ein Lächeln auf seinem Gesicht.”
Stephan-Andreas Casdorff, Archivaufnahme 08.03.2012: „Ja, jetzt wo er seine Frau sieht.”
„Es geht auch um Haltung, wir haben ja schon darüber gesprochen, es geht darum, vielleicht aus Trotz, aber vielleicht auch um Format zu zeigen, ganz am Schluss Format zu zeigen, dass er Haltung bewahren will. Und die hat er mindestens heute gezeigt. Ich meine, ist gut, blieb ihm auch nichts anderes übrig, sonst wäre er da vom Podium gefallen. Aber man sieht schon auch, das Gesicht, das hat sich verändert. Jetzt meißelt die Zeit an ihm.”
Christian Wulff: „Da war es natürlich auch eine gewisse Erleichterung, dass man nunmehr diesem Dauer-Feuer und dem Beschuss nicht mehr so unmittelbar ausgesetzt war. Ich habe mich dann mit meiner Familie nach Burgwedel zurückgezogen.”
[Ende: Collage verschiedener Stimmen zum Großen Zapfenstreich]
Man ahnt es: Nein, Christian Wulff bekommt nicht die ersehnte Ruhe. Auch nach dem Zapfenstreich ist die Geschichte nicht erledigt.
Christian Wulff: „Ich hatte gedacht, jetzt ist es in den Händen der Justiz, jetzt warten wir ab. Und wenn das dann dort entschieden ist, dann wird es bewertet. Aber es gab ja dann eine weitere massive Beeinflussung der Justiz und des Ermittlungsverfahrens. Dann Hausdurchsuchung, wo die ganzen Medien fünf Minuten nach Beginn alle vor der Tür standen. Also auch informiert waren, dass die Hausdurchsuchung stattfindet. Und wenn Sie das erleben, das ist so traumatisierend, dass man sich da sinnvollerweise fachkundigen Rat holt, das habe ich auch gemacht.”
Von allen Vorwürfen bleibt nichts übrig. Knapp zwei Jahre später wird Christian Wulff freigesprochen.